Was ist dran an der Überheblichkeit des Westens über den Osten

Wird es mit einem neuen Thema weitergehen?

Pinnow, 4. Februar 2024

Liebe Hannelore,

jetzt ist es schon wieder Februar. Ich wollte dir doch längst geschrieben haben. Aber mein Leben hält mich auf Trab. Du kennst das. Wird das irgendwann einmal anders? Wenn ich von dir und deinem vielen Tun lese, habe ich nicht den Eindruck. Vielleicht ist das auch gut so.

Erinnerst du dich noch an das Theater am Rand, von dem ich zu Beginn der CoronaZeit geschrieben hatte? Die beiden Intendanten hatten damals einen tollen Weg gefunden, um sich dieser ver-rückten Zeit und ihren unterschiedlichen Auffassungen anzunähern – über die Kunst. Mit einem Stück wollten sie sich und dem Publikum begegnen. „Südliche Autobahn“ von Julio Cortázar . Geschrieben 1966, über einen Stau vor Paris, der Monate dauert. Ich habe es mir geschaut und mich gefragt: Was wollten die Künstler uns damit sagen? Oder vielmehr der Künstler. Es stand nur Thomas Rühmann auf der Bühne. Tobias Morgenstern, der Rühmann und dessen Lesungen sonst immer musikalisch begleitete (oder vielmehr interpretierte) fehlte. Die Musik kam aus der Dose. Das fand ich merkwürdig. Später sickerte durch, dass Corona die beiden  getrennt hatte – die Kunst verband nicht mehr.
Vor zwei Wochen nun las ich das Tobias Morgenstern, dessen Meinungen zum Zeitgeschehen ich teile, das Theater verlassen hat. Das bedauere ich sehr. Denn zuletzt war ich überwiegend zu seinen Veranstaltungen im Theater. Er hatte dort eine tolle Reihe ins Leben gerufen: Freies Wort – Freie Musik.  Philine Conrad, die einige dieser Veranstaltungen moderierte, schrieb einen Abschiedsbrief an Tobias Morgenstern, der in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde.
Philine Conrad ist gebürtige Kölnerin. Im Theater am Rand entdeckte sie einen Teil Deutschlands, der ihr so nicht bekannt war. Und damit bin ich bei meinem Thema und meiner eigentlichen Frage. Aber lies erst mal, was P.C. schreibt:

Zwei Jahre lang habe ich eine sehr wertvolle Reihe moderiert: „Freies Wort – Freie Musik“ im Theater am Rand in Oderaue, Brandenburg. Nicht nur, dass mich der Ort und die Gegend fasziniert haben (die wunderschön ist, mit Kranichen, Störchen und Graureihern – auch habe ich das damalige Fischsterben in der Oder live mitbekommen und die ausbleibende Unterstützung von Behörden und Regierung sowie die Wut der Anwohner über das Alleingelassenwerden; übrigens dieselbe Stimmung wie im Ahrtal damals.)

Es haben mich vor allem die Gespräche und Kamingespräche im Künstlerhaus in einer tiefen, intensiven Form bereichert, erfüllt und geistig erweitern und wachsen lassen. Die Überheblichkeit des Westens über den Osten beziehungsweise der Wessis gegenüber den Ossis war und ist nach wie vor zu spüren, und ich bin jedes Mal sehr bewegt nach Köln zurückgefahren. Denn so bin auch ich aufgewachsen in einem Umfeld: „Die DDR, die schlimme Diktatur, die ungebildeten und etwas dummen Ossis, die nichts von der Welt mitbekommen und daher nur einen begrenzten Horizont haben.“ Ich habe dieses ehemalige, einst andere Land ganz anders kennengelernt. Vor allem die Menschen, das Miteinander und die Reflexion über politische Entwicklungen. Es ist irre, wie kluge, durchdachte, verknüpfende und über den Tellerrand hinausblickende Prognosen und Analysen ich hören durfte. Es hat mich sehr bewegt, geprägt und bereichert.

Was sie schreibt, bewegt nun wieder mich. Rührt mich.
Ich hatte dir von der Lesung erzählt, die ich mit Papa besucht hatte – der Literaturprofessor Dirk Oschmann las aus seinem Buch: Der Osten eine westdeutsche Erfindung. Hast du es inzwischen gelesen? Oder darüber? – Oschmann und sein Buch bekamen in der Presse viel Aufmerksamkeit.
Ich würde mich so gerne mit dir darüber austauschen. Deine Geschichte, dein Zurückschauen, wie war es nach der Wende als Professorin aus dem Osten in den Westen zu gehen? Hast du die „Wiedervereinigung“ als Wiedervereinigung erlebt? Oder als Vereinnahmung? Oder … was gibt es noch? Und wie erlebst du heute nach dreißig Jahren im Ruhrgebiet das Zusammensein?
Liebe Hannelore, das ist so ein wichtiger Teil unserer Geschichte – es wäre toll, wenn du mir davon erzählen würdest, gerne auch in kleinen Happen, immer mal so zwischendurch – falls dich aus Versehen die Langeweile packt oder als Ablenkung in deinem Tun.

Ich tue jetzt aber auch erst mal weiter.
Ganz liebe Grüße,
Nora.

Tiefe Spaltung und ein Hoffnungsschimmer

Anja Biosch, Logopädin – Januar 2024

Januar 2024

Liebe Frau Mittelstädt,

13. Januar
gerade habe ich die ersten Seiten aus dem“ Briefwechsel “ gelesen. Ich werde, so mein erster Eindruck, beim Lesen sehr tapfer sein müssen. Für mich war die CoronaZeit sehr traumatisierend und ist es noch immer. Unsere Familie ist gespalten.
In der ersten Zeit habe ich selbst versucht Tagebuch zu führen, doch schon bald fehlte mir die nötige Kraft und Ausdauer. Nun versuche ich seit ungefähr einem halben Jahr meine Erlebnisse und Gedanken rückblickend niederzuschreiben. Nach ein paar Seiten und den geweckten Erinnerungen jedoch bin ich emotional jedes Mal so angegriffen, dass ich nächtelang kaum richtig schlafen kann. Der Schmerz ist einfach zu groß. Noch habe ich nicht herausgefunden, wie ich einen besseren Umgang mit den Traumata der vergangenen Zeit finden kann.

15. Januar
Auch dieser Brief an Sie will mir nicht in einem Ritt gelingen. Ich merke, wie verwundet ich bin.
Heute nun sitze ich hier und während ich schreibe, höre ich im Hintergrund immer wieder die hupenden Schlepper und Brummis, die zuhauf in die Stadt fahren, um mit ihrem Protest gegen die Zerstörung unserer Landwirtschaft fortzufahren. Als dieser Protest vor einer Woche begann, habe ich meine Praxis geschlossen und bin gemeinsam mit meinen Mitarbeitern zur Demo gegangen. Bei klirrender Kälte haben wir selbstgebackene Pfannkuchen und Kaffe verteilt. Es war ein sehr schöner Tag, friedlich und hoffnungsvoll. Es erinnerte mich tatsächlich ein bisschen an die letzte Zeit in der DDR, obwohl die Lage insgesamt doch viel komplexer ist als damals und auch deutlich gefährlicher, wie ich finde. Dessen ungeachtet möchte ich mich jetzt erst einmal an dem großen Widerstand, der sich in der Bevölkerung zeigt, erfreuen und für die Hoffnung, die er schenkt, dankbar sein.

16. Januar
Inzwischen habe ich mich nun auch ausführlich mit Ihrem Blog beschäftigt. Einige Texte habe ich mehrfach gelesen. Ich musste mich erst einmal daran gewöhnen, die Texte in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Am meisten berührt hat mich Ihre Beschreibung von der Demo am 28. August. Ihre Reflexion über Mitmachen oder Widerstand hat mich selbst auch wieder einmal zur eigenen Reflexion darüber angeregt. Es betrifft die Zeit in der früheren DDR – Widerstand oder Mitmachen – außerdem überlegte ich, wie ich mich in der CoronaZeit verhalten hätte, wenn ich noch kleine/ Schulkinder gehabt hätte. Wie hätte ich mich im Angestelltenverhältnis verhalten usw ….

23. Januar
Inzwischen ist schon wieder so viel passiert.
Die inszenierten Massenaufmärsche, infolge des ominösen Treffens in Potsdam, beunruhigen mich zutiefst. Die Spaltung der Gesellschaft, so scheint es mir, bekommt nun eine neue Qualität. Ich bin darüber ganz niedergeschlagen. Wie geschickt das Ganze eingefädelt ist, um von den eigentlichen Problemen abzulenken.
Dieser sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen, wie er doch ermüdet und erschöpft. Ja und dann ist dieser Kampf ja auch nicht nur sprichwörtlich…
Aber natürlich freue ich mich auch weiterhin über die Proteste der Bauern und Mittelständler. Es ist ein Hoffnungsschimmer der sich hoffentlich nicht wieder verdunkelt.
Über eine Whats App Gruppe war ich gestern mit den Akteuren der Autobahn- und Grenzsperrung in Pomellen verbunden. Mein Bruder lud mich dazu ein. Der Zusammenhalt und die Kreativität aller dort Beteiligten war beindruckend und herzerwärmend.

Liebe Frau Mittelstädt, ich habe mir fest vorgenommen, Ihren Fragebogen zu beantworten. Aber es braucht noch ein wenig Zeit. Zunächst war es mir ein Bedürfnis, aus dem Hier und Jetzt auf Ihren tollen Blog zu reagieren.
Ich grüße Sie herzlich,
Anja Biosch.

Jo, 17. Januar 2024

Denk ich an Deutschland

Meine beste Nora,

wie weiter mit dem Briefwechsel zwischen dir und mir? Dein Nachfragen, wenn wir uns sehen oder sprechen, macht mich schlaflos und ich denke an Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“.
Ich weiß keine Antworten auf die vielen Fragen, die diese kaputte Welt stellt. Oder anders gesagt: meine Antworten und Lösungsansätze finde ich in der Regierungspolitik nicht ansatzweise wieder. Die deutsche Politik ist für mich desaströs. Um dir meine Stimmungslage deutlich zu machen, gebe ich dir einige Synonyme für desaströs: desolat, fatal, katastrophal, beschissen. … Diese Attribute widerspiegeln mein emotionales Stimmungsbild.
Ich will das an drei Politikfeldern verdeutlichen.

a) Ich bin fundamental gegen die aktuelle deutsche Außen- und Verteidigungspolitik.
Ich will keinen mit militärischen Drohungen untersetzten interventionistischen Export deutscher Wertevorstellungen von Freiheit und Demokratie in andere Länder. Deutschland (und der „Westen“) ist nicht der Nabel der Welt. Genausowenig wie 2003 Deutschland am Hindukusch verteidigt wurde, wird Deutschland heute in der Ukraine verteidigt.
Ich will keine militärische Eskalation in der Ukraine. Militärisch ist der Ukrainekonflikt nicht zu lösen. Ansätze für eine friedliche Lösung des kriegerischen Konflikts hat Deutschland, hat die westliche „Wertepolitik“ viel früher verspielt. Symptomatisch dafür ist das Eingeständnis der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ zugab, dass das Abkommen von Minsk (2014) dazu diente, die Ukraine aufzurüsten.
Ich will Abrüstung statt Aufrüstung.
Ich will Friedenspolitik statt Konfrontationspolitik.
Ich will keine militärischen Interventionen.
Ich will keine 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr.
Ich will 100 Mrd. Sondervermögen für die Lösung von Zukunftsaufgaben in Deutschland (z.B. für Bildung)

b) Ich bin für ein sozial und wirtschaftlich starkes Deutschland. Ich bin bei Oxfam Deutschland. (Oxfam ist die weltweit größte Nothilfe- und Entwicklungsorganisation). Oxfam stellte in seinem aktuellen Bericht zur sozialen Ungleichheit 2024 folgendes fest: „Die fünf reichsten Männer der Welt haben ihr Vermögen seit 2020 verdoppelt, fast fünf Milliarden Menschen sind ärmer geworden. Unser Bericht macht deutlich, wie Superreiche und Konzerne von Inflation, Kriegen und Pandemie profitieren, während die meisten Menschen unter den Folgen leiden. Wir fordern deshalb eine Besteuerung großer Vermögen, um in den Klimaschutz, den Ausbau von Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherung zu investieren.“
Ich bin gegen eine Politik, die extreme soziale Ungleichheit (weltweit und in Deutschland) ignoriert. Auch hier finde ich mich durch die deutsche Politik nicht vertreten. (Anmerkung: Diese Feststellung betrifft nach meiner Überzeugung auch Grundsatzfragen der Migrationspolitik. Migration ist dort zu bekämpfen, wo die Ursachen für Migration liegen. Kurz gesagt: Statt Rüstungsexport bin ich für den Export von Entwicklungshilfe).

c) Um die Demokratie ist es in Deutschland schlecht bestellt. Was ist mit denjenigen, wie mich, die sich in der deutschen Politik auch nicht ansatzweise wiederfinden? Wen soll ich wählen, wenn Wahlversprechen schamlos gebrochen werden?
(Beispiel: a) zur Rüstungspolik: Im Wahlprogramm der Grünen steht: Keine Rüstungsexporte in Kriegesgebiete, heute gehören die Grünen zu den größten Befürwortern von Rüstungsexporten an die Ukraine. Mehr dazu unter: Bundestagswahl 2021: Was steht in den Wahlprogrammen der Parteien zu Friedenspolitik, Rüstungsexporten und Atomwaffen? Schau mal unter:  Ohne Rüstung Leben !
Beispiel b) zur Sozialpolitik: SPD und Grüne versprachen die Einführung einer Bürgerversicherung: Die Bürgerversicherung soll als einheitliche Rentenversicherung dafür sorgen, dass alle Menschen in Deutschland in der gesetzlichen Rente versichert werden. Ob Arbeitnehmer*innen, Selbstständige, Beamte, Vorstandsvorsitzende von Aktiengesellschaften und Politiker. Auch dieses Wahlversprechen ist unter den Tisch gefallen.
Alternativen finde ich in unserer Politik nicht. Rechtsextremismus ist keine Alternative. Politikansätze links sind nicht zu finden, da finde ich nur heilloses Zerwürfnis. Etwa 25 Prozent der Wahlberechtigten nahmen an der letzten Bundestagswahl nicht teil – auch das werte ich als Stimmungsbild dafür, dass man sich in der Politik nicht wiederfindet.

Mit diesem Briefwechsel will ich deiner Bitte nachkommen. Es spiegelt meine emotionale Stimmungslage wieder und gibt kein umfassendes Bild meines Politikverständnisses.

Liebe (hoffnungslose?) Grüße,
Jo-Papa.

Lest, was Jo-Papa zuletzt schrieb.

Hannelore, 31. Dezember 2023

Silvestergruß

Krefeld, 31. Dezember 2023

 

Liebe Nora,

ich hoffe, ihr hattet eine schöne Weihnachtszeit und freut euch auf ein hoffentlich gutes neues Jahr.
Wir haben zur Zeit ein volles Haus. Anke kam bereits über die Weihnachtsfeiertage mit ihrer sechsköpfigen Familie aus England. Allerdings war ihre Anreise sehr beschwerlich, die französischen Bahnmitarbeiter haben gestreikt, zum Glück konnten Anke und Familie auf die Fähre ausweichen.  Bei orkanartigem Sturm und Regen war jedoch auch das nicht ohne. Wir waren froh als sie endlich hier ankamen. Samuel hat es dann erst einmal mit Fieber niedergestreckt, glücklicherweise blieb der Test negativ, so dass unsere Familienfeier wie geplant stattfinden konnte.
Auch den größten Wunsch der Kinder haben wir erfüllen können– endlich einmal einen deutschen Weihnachtsmarkt besuchen. Regen, Sturm und Stau hat ihrer Begeisterung keinen Abbruch getan. Ihre Kinderaugen glänzten. Für mich war es der reinste Irrsinn. Und dann noch diese Preise. Unglaublich. Wo soll das hingehen?
Heute Abend wird es noch einmal hoch hergehen. Die Kinder erwarten eine große Party. Wir werden tanzen und Karaoke singen. Ich bin sehr gespannt.
Wie feiert ihr Silvester?

Ich wünsche euch jedenfalls ein gutes Ankommen im neuen Jahr
und freue mich von dir zu lesen.
Liebe Grüße,
Hannelore.

Wenn reden unmöglich wird

Nora, 19. Dezember 2023

Lieber Jo-Papa,

hier kommt wie versprochen, der Text den ich über meine Demo-Erlebnisse geschrieben habe.

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Wenn reden unmöglich wird,
Was können wir dann tun?

 

Durch die Straßen ziehen. Trommeln, singen, klatschen, lachen…

Berlin war ein Fest. Energetisierend. Herzerwärmend. Wir sind sooo viele. Eine Kraft.

Die ausgebremst, die aufgehalten, die mundtot gemacht werden soll.

 

Es ist der 28. August 2021. Die Demokratiebewegung sammelt sich in Berlin. Ich bin noch keine fünfzehn Minuten im Zug –  aus der Friedensstraße kommend, passieren wir die Landsberger Straße – als es losgeht. Rechts und links von uns beginnt ein schwarz vermummtes eiliges Rennen. Wir sind auf der Hut. Überlegen, was könnten sie wollen. Uns in den Friedrichshain treiben, um uns dort einzukesseln?

Pfingsten habe ich das so schon einmal erlebt, an der Siegessäule im Tiergarten. Anders als heute waren wir damals nicht Tausende, sondern maximal fünfzig Menschen. Aber offenbar brandgefährlich. Brutalst wurden damals einer Frau, mit der wir eben noch gesungen hatten, die Arme verdreht. Tief gebeugt mit schmerzverzerrtem Gesicht wurde sie an mir vorbeigeführt. Ich war schockiert, brüllte ehrlich empört: „Das könnt ihr doch nicht machen!“ Meine Freundin zog mich zurück. Zwei Stunden dauerte unsere „Maßnahme“ damals. Mein Tamburin wurde beschlagnahmt. Meine Freundin ist bis heute traumatisiert.

Der Zug teilt sich. In Parkläufer und Straßenläufer. Wo ist die Polizei? Daaa!!! Ein schwarzer Arm zieht plötzlich an der Trommel, die neben mir läuft. Die Frau, die an der Trommel hängt hat keine Chance. Ebenso wenig wie ihre Gefährten. Der Trommler mit der größten Trommel steht wenig später breitbeinig mit erhobenen Armen an der blauen Minna. Ich weiß nicht mehr, ob er durchsucht wird. Ich zücke mein Handy. Mitschnitte (für den UN-Sonderbeauftragten Nils Melzer) sind derzeit unsere einzige Chance, etwaige Polizeigewalt aufzuhalten.

Hilflos stehen wir um die abgeschirmten Musiker. Meine Freundin erkundigt sich bei der Trommlerin, wie wir helfen könnten. Ein Polizist unterbindet jedwedes Gespräch. Ein anderer blafft eine weitere Trommlerin an: „Wenn die Polizei arbeitet, haben Sie Folge zu leisten! Haben Sie das verstanden?“ Unsere Trommlerin versucht es mit einem Gespräch, sie sagt: „Die Leute gehen weiter, ohne dass wir trommeln. Dass heißt, es ist nicht so, dass wir die Leute zum Gehen animieren. Sie gehen trotzdem.“ Der Polizist schweigt.
„Dürfte ich wissen, weshalb Sie uns festhalten?“ Starren. Schweigen. „Darf ich nicht?!“ Ein Stückchen weiter platzt einer dritten Trommlerin der Kragen, sie ruft: „Sie halten mich fest, wie eine Schwerverbrecherin. Eigentlich bin ich sogar Nazi. Was dürfen wir? Immer brav Steuern zahlen, immer brav  ´ne Spritze abholen in Zukunft als Dauerabo …“ Nun endlich reagiert ein Polizist: „So, eine schöne Rede haben Sie hier geschwungen. Ich weise Sie noch mal darauf hin, das ist eine polizeiliche Maßnahme, Sie hören jetzt einfach mal zu“. In mir rebelliert es. „Hört uns denn einer zu?“ NEIN! Verdammt noch mal. NEIN!!! Ignoriert, diffamiert, in die rechte Ecke getrieben. Und weiter geht es: „Sie tanzen hier nicht rum, als wenn Sie eine Party feiern. Sie bleiben hier stehen, bis ich Ihnen sage, wie es weitergeht. Haben Sie das verstanden?“

Ein älterer Mann, wie ich als Zeuge filmend, fragt: „Wie fühlen Sie sich dabei? Was erzählen Sie Ihrer Frau und Ihren Kindern heute Abend? Dass Sie wieder eine Maßnahme durchgeführt haben?

„Geht ruhig weiter“, rufen uns die Trommler zu.

Fünf Stunden später sehen wir sie wieder. Musizierend mit Tamburins und klitzekleinen Trommeln. Montag, erzählen sie uns, könnten sie ihre großen Trommeln wieder abholen.

In den fünf Stunden dazwischen ziehen wir durch die Berliner Innenstadt. Immer wieder sehen wir Polizeigewalt. Auffallend ist, dass jedes Mal der gleiche Trupp zuschlägt. Meist an Hauseingängen und Tordurchfahrten. Gruselig. Einmal, als ein Mann aufgehalten und geschubst wird – seine Brille fliegt in hohem Bogen auf die Straße – geht es wie Pfingsten mit mir durch: „Das könnt ihr doch nicht machen!“, brülle ich den drei Polizisten zu, die sich – die Schubsattakte absichernd – vor uns Nachfolgenden aufgebaut haben. In meiner Empörung habe ich keine Angst. Meine Freundin Katja schon. Sie nimmt mich bei den Schultern und sagt „Komm Nora“. An den Polizisten vorbei führt sie mich durch deren Schutzriegel wieder in die Reihe der Demonstranten.

Unser Zug wird zu einem einzigartigen Festumzug. Wir lassen den Prenzlauer Berg hinter uns, spazieren durch Mitte, durch Moabit – von den Balkonen werden wir überwiegend gefeiert, uns wird gedankt. Wieder läuft eine Trommlerin neben mir, eine schon ältere Dame. Ich frage sie, ob sie keine  Angst habe. „Nein“, antwortet sie, „ihre Trommel gebe ihr eher ein Gefühl von Sicherheit“. Wir singen, sie trommelt. Wenn die Antifa auftaucht rufen wir „Nazis raus!“, später, als wieder mehr und mehr Polizisten neben uns hergaloppieren, ich sehe wie sie schwitzen in ihrer Montur“, skandieren wir: „Alle zusammen gegen den Faschismus!“

Wie schön wäre das!!! Alle zusammen gegen diejenigen, die gerade dabei sind unsere Grundrechte zu zertreten und parlamentarische Strukturen aufzulösen. Oder noch viel besser: Alle zusammen DAFÜR, dass unsere Grundrechte geschützt und parlamentarische Strukturen erhalten und verbessert werden.

Es ist noch nicht so weit. Mitten auf der Brücke stoppt uns die Staatsgewalt. Zunächst ist es nur eine löchrige Kette. Einige Demonstranten „passieren“ noch. Dann jedoch wird aufgerüstet. Plötzlich stehen sie da, Schulter an Schulter, die Hände zu Fäusten geballt vor der Brust verschränkt. Ich stehe zirka zehn Meter entfernt, am Gitter zum gegenläufigen Fahrstreifen. Gemeinsam mit anderen will ich hinüberklettern, raus aus dem eingeklemmten Pulk. Polizisten hindern uns: „Bleiben Sie, wo Sie sind!“ „Sie dürfen hier nicht rüber!“ Ein Mann fragt, weshalb nicht. Keine Reaktion. Schwarz vermummt, die Maske im Gesicht stehen die jungen Männer vor uns. Sie verziehen keine Miene. Nur Ihre Augen huschen hin- und her. Ab und an feuert einer: „Bleiben Sie, wo Sie sind!“

Ganz vorne in der ersten Reihe, das erfahre ich aber erst später, stehen meine Freundinnen Claudia und Lydia. Ein Meter trennt sie von den Polizisten, die alle behelmt sind, ihre Visiere jedoch noch oben tragen. Claudia und Lydia und die Menschen neben ihnen recken ihre Arme in den Himmel. Ein Demonstrant durchläuft immer und immer wieder den Korridor zwischen Polizei und Zug und mahnt ruhig zu bleiben. Claudia, so berichtet sie später, sucht das Gespräch. Polizisten in Vollschutz sind ihr vertraut. Sie arbeitet im Maßregelvollzug. Normalerweise, erzählt sie, „hole ich die Polizisten als Hilfe“. Nun jedoch steht sie einer schweigenden Menge gegenüber. Fragen, Bitten, Gesprächsangebote werden nicht erwidert.

Wie, frage ich mich, soll Kommunikation funktionieren, wenn sie nur einseitig ist. Wie kann man ein schweigendes Gegenüber erreichen?

„Lasst uns doch einfach durch!“, ruft es von hinten. „Die Mauer muss weg“, ruft es von überall.

Die Masse schiebt.

Meine Freundin Vicky, die mit meinem Handy auf dem Gitter steht, um zu filmen, schreit plötzlich: „Mach die Augen weg. Die haben Tränengas!“ Und dann merke ich es schon im Hals. Nichts wie weg. Jetzt dürfen wir über das Geländer. Flüchten ist erlaubt.

Auf der Flucht treffen wir Claudia und Lydia. Claudia hat Glück gehabt, sie hat nur einen Atemzug voll Tränengas abbekommen. Eine halbe Minute, sagt sie, habe sie nicht mehr atmen können. Es sei wie bei dem Asthmaanfall gewesen, den sie einmal hatte. Lydia jedoch hat es voll erwischt. Und zwar völlig überraschend. Sie hatte den „Stau“ genutzt, um zu essen und zu trinken. Das Tränengas kam genau in dem Moment, als sie ihre Wasserflasche im Rucksack verstaut hatte und sich wieder aufrichten wollte. Eine Stunde brauchte sie, bis sie die Augen wieder schmerzfrei öffnen konnte. Bis in die Nacht brannte ihre Haut.

Mit zusammengekniffen, weil unglaublich brennenden Augen, fragt sie: „Warum reden die nicht mit uns?“

 

„Zu jeder Kommunikation gehört das Wohlwollen des anderen.“
Max Frisch

Endlich wieder aufeinander zugehen,
endlich wieder miteinander reden,
einander (endlich) einmal wirklich zuhören.

 

Schreibe ich auf ein Schild, dass ich mir am Sonntag umhänge, um erneut mit tausenden Menschen durch Berlin zu ziehen. Wieder begleiten uns schwarz vermummte Polizisten. Immer wieder stellen sie sich uns in den Weg – wir teilen uns, verlieren uns und finden uns wieder. Es ist ein Katz und Maus-Spiel. Doch die Energie trägt. Selbst als ich im Prenzlauer Berg in einem Kessel lande, bleibt meine Stimmung gehoben. Wir alle hier wissen, was nun passiert. Wir wissen nur nicht, wie lange es bis zu unserer „Freilassung“ dauern wird. Die Polizei natürlich verrät es uns auch nicht.

Mit einem Mal stehen zwei Jungs vor mir, so alt wie mein Hannes, zehn, elf Jahre schätze ich. Sie zeigen auf mein Umhängeschild und fragen durch FFP2-Masken: „Was wollen Sie mit Ihrem Schild sagen?“ Ich erzähle Ihnen, wie schlimm ich es finde, wenn Verwandte, Freunde, Kollegen nicht mehr miteinander reden, weil sie in Sachen Corona unterschiedlicher Meinung sind. Die beiden fragen, welcher Meinung ich denn sei. Ich sage: „Ich demonstriere hier mit.“ „Wir teilen eher die andere Meinung“, erzählen die zwei, und geimpft seien sie auch. Tun sie mir deshalb leid? Nein. Ich merke, für mich ist es wirklich okay, wenn Menschen sich und ihre Kinder impfen lassen. Nur sollen sie uns ebenfalls zugestehen, uns nicht impfen zu lassen. Die beiden Jungs, scheint mir, können das. Wir reden noch ein bisschen. Und ich denke: So kann es gehen. So sollte es gehen. Die Kinder machen es uns vor.

Wenig später redet auch ein Polizist mit mir. Er muss meine Personalien aufnehmen und mich über den weiteren Werdegang belehren. Ich frage ihn, wie es ihm mit und in solch einer Maßnahme gehe. Er ist aus Thüringen und sehr freundlich, nun jedoch etwas irritiert. Schließlich sagt er: „Ich mache meinen Job.“ Und dann noch: „Die einen haben eben diese Meinung und die anderen eine andere.“

Erst einige Tage später geht mir auf: Das hatten wir schon einmal. Damals hieß es: Ich habe nur Befehle ausgeführt.

„Befehle erhalten, Befehle erteilen, das ist dein Leben, ja?“ Genau das hatte eine der Trommlerin am Samstag den Polizisten gefragt, der sie ohne vorherige Ansprache einfach und nicht gerade sanft aus dem Zug gezogen und dann gefordert hatte: „Sie bleiben hier stehen, bis ich Ihnen sage, wie es weitergeht. Haben Sie das verstanden?“

Die Trommler hatten verstanden. Als sie am Montag ihre (zum Teil sehr wertvollen) Instrumente abholen wollten, wurde ihnen die Herausgabe jedoch verweigert. Die Trommeln, wurde ihnen gesagt, bleiben weiter verhaftet. So lange, bis vermutlich ein Richter beurteilen wird, ob die Trommeln eine Straftat begangen haben und zerstört werden oder nicht.

Inzwischen befinden wir uns im neuen Jahr. Die Trommeln sind noch immer verhaftet.

Kunst als Waffe. So schrieb es Friedrich Wolf. Lasst uns Kunst machen, lasst uns Musik machen!!! Alle zusammen! Zur Not mit Kochtöpfen und Rührlöffeln.