Endlich Aufarbeitung

Endlich Aufarbeitung

Berlin, 26. September 2024

Liebe Nora,

ich brauche deinen Rat. Oder viel mehr deine Erfahrung zum Thema Coronaaufarbeitung.
In der Schule der Kinder meines lieben Kollegen Stefan – einer Waldorfschule – wurde endlich angeregt, die Coronazeit aufzuarbeiten, weil einige Schüler arg damit zu kämpfen haben, wie sie ausgegrenzt wurden. Und Stefan auch – er hatte damals seine Konsequenzen gezogen, gekündigt und war zu uns in die Schule gewechselt; für seine Kinder war das leider nicht möglich.
Jetzt aber wurde er tatsächlich angesprochen, ob er eine Idee habe, wie man mit dem Problem umgehen, wie man es aufarbeiten und damit lösen könnte.
Ich habe Stefan angeboten, dich zu fragen, wie man es anstellen könnte, alle aus dem Kollegium an einen Tisch zu bekommen, ohne sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Stefan will auch noch in seinen „Schwurblerkreisen“ fragen.
Ach Mann, dieser Rattenschwanz ist so krass … Die Kinderpsychologien sind total übervoll …
Wenn dir etwas einfällt, wäre das super.

Lieben Dank und Gruß,
Kristina.

Affenpocken im Straßencafé

Immer mal wieder schaltet sich Noras Freund Paul aus Schwedt mit seinen Beobachtungen zur Zeit in den Briefwechsel. Zuletzt schrieb er am 6. Juni von seinem Besuch im Eberswalder Café Kleinschmidt. Heute war er erneut in einem Café und wurde Ohrenzeuge.

Schwedt, 28. August 2024

Liebe Nora,

die Tage haben sich verändert und ich gehe davon aus, dass es nicht nur am wechselnden Wetter liegt. Ich höre den Menschen noch genauer zu als früher, lese schneller zwischen den Zeilen als früher und genieße jeden Sonnenstrahl.

Die meisten Leute setzen sich sicher gerne mal in ein Straßen-Café. Man kann bei Tee oder eben Kaffee entspannen und Leute beobachten, sein Gesicht in die Sonne halten oder einfach schlicht seinen Gedanken folgen. Das mache auch ich ganz gerne. Ab und an kommt es vor, dass ich unfreiwillig Gespräche am Nebentisch mit anhören muss, die irgendwann nerven. Dann verschwinde ich meistens schnell. Es kommt aber auch vor, dass ich Gespräche mit anhören darf, die mir gefallen und dann bleibe ich und bestelle mir noch einen zweiten Kaffee oder ziehe den Ersten extrem und geduldig in die Länge. Letzteres konnte ich vor ein paar Tagen erleben und ich bestellte mir, weil es passte, einen zweiten Espresso. Zwei alte Leute, eine Frau, ein Mann, beide etwa 80 Jahre alt, sympathisch, aufgeweckt, offenkundig kein Paar, sondern Bekannte, unterhielten sich, wie man es oft kennt, da dies das Alter begleitet, über Krankheiten und Arztbesuche. Die Frau voran, offenbart, dass ihr Arzt wieder neue Tabletten verabreichen wollte. Sie sagte ihm, dass sie die alten schon nicht nähme. Der Arzt war entsetzt. Sie meinte nur: „Machen Sie sich keine Sorgen Herr Doktor, es geht mir ja wirklich gut!“.  Ihrem Gesprächspartner am Kaffeetisch zugewandt sagte sie: „Diese ängstlichen Ärzte. Mehr als gut ginge ja wohl nicht, wozu also Tabletten?“. Beide Alten am Cafétisch nebenan lachten herzlich und wirkten auf mich, wie die beiden alten Männer auf dem Balkon aus der Muppet-Show. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Ja, ja sagte daraufhin der Alte am Nebentisch, er kam mit einer verschnupften Nase zu seinem Arzt und der wollte ihm Antibiotika verschreiben, worauf der Alte dem Arzt antwortete: „Ach lassen Sie mal, für so etwas nehme ich schon seit ein Dreiviertel-Jahrhundert ein Taschentuch“. Die beiden am Nebentisch kicherten wie kleine Kinder und ich pustete mir vor Lachen fast den Kaffee durch die Nase und über die Hose. Nun konnte ich es nicht mehr verbergen, dass ich ihnen zuhörte. Sie schauten mich beide an und ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, welcher beim Lauschen erwischt wurde.

Um der Situation zu entkommen meinte ich, ich ginge schon seit über 20 Jahren nicht mehr zum Arzt, außer zum Zahnarzt, denn mit Zähnen sei nicht zu spaßen. Daraufhin sieht die alte Dame mich ernst an, öffnet ihren Mund als würde sie mich wie ein tollwütiger Hund beißen wollen und sagte: „Das stimmt!“, klackte dabei mit ihrem Fingernagel auf Keramik oder Plastik, als würde ein Vögelchen mit seinem Schnabel an einer Fensterscheibe klopfen und deutet mit selbigem Finger auf ihr künstliches Gebiss. Ich verstand sofort, hatte etwas Angst, dass sie dieses jetzt aus dem Mund nehmen würde, was glücklicherweise nicht passierte, wartete noch eine Sekunde und dann lachten wir alle drei wie auf Kommando lauthals los.

Daraufhin meinte der alte Herr, er saß neulich wieder einmal im Wartezimmer bei seinem Hausarzt, welcher schon lange keine Zeit mehr hat, zu ihm nach Hause zu kommen und er darum zu ihm kommen muss. Viele Leute, ob jung, ob alt, kratzten sich am ganzen Körper und hatten Arme und Hände aufgekratzt. Eine der Damen im Wartezimmer meinte, das erinnerte sie an die Nachkriegszeit, als es die Krätze gab. Alle anderen im Raum schauten sie an. Der alte Herr meinte darauf nur trocken zu ihr: „Im Fernsehen sagen sie, es seien Affenpocken“! Nun sahen alle erstarrt zu ihm. Das war ihm nicht entgangen und er sagte ihnen zur Beruhigung, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, denn er wüsste ganz sicher, da er den Beipackzettel gelesen hatte, dass im AstraZeneca-Impfstoff das Schimpansen Adenovirus enthalten sei und jeder der noch etwas bei Verstand sei, ja wohl die Finger davon gelassen hat, zumal dazu gentechnisch veränderte menschliche embryonale Nierenzellen verwendet wurden und Polysorbate80 enthalten ist, welches krebserregend, Thrombosen, Leberschäden und Hautkrankheiten  auslöst. Die meisten Menschen hätten ja andere Impfstoffe bekommen oder hätten diesen Unfug erst gar nicht mitgemacht.

Wie ich den alten Herrn am Nebentisch so betrachte, merke ich, dass er es so meinte wie er es sagte und obwohl ich impffrei bin, verflog meine gute Laune mit einem Schlag. Er verneinte meine Frage ob er wüsste, was in den anderen Beipackzetteln der anderen Hersteller stand. Die alte Dame legte kurz aber vertraulich ihre Hand auf meine bevor ich aufstand und meinen Kaffee bezahlte. Den restlichen Tag hatte ich entsetzliche Magenschmerzen. Ich hätte es wissen müssen, zwei Kaffee so dicht nacheinander habe ich noch nie vertragen..

Liebe Grüße Paul

Angst vor dem Verlust des Weltbildes

Seit Anna Biosch Noras „Briefwechsel“ gelesen hat, schreibt sie der Autorin in unreglemäßigen Abständen. Ihr letzter Brief datierte vom 17. Juni 2024 und schildert ihre mentale Instabilität angesichts der „furchtbaren Gegenwart“.

Berlin, 20. August 2024

Liebe Nora,

kennen Sie dieses drückende Gefühl, es heute wieder nicht geschafft zu haben, einen Brief zu schreiben? Eigentlich wollte ich diesen schon unmittelbar nach der großen Friedensdemo am 3. August geschrieben und abgeschickt haben.

Schade, dass wir uns auf der Demo nicht begenet sind. Leider war ich beim Umzug nicht dabei. Wirklich wichtige Infos, wie Beginn und Treffpunkt der Demo hatte ich nicht gut genug gespeichert und so kam ich tatsächlich zu spät. Allerdings noch rechtzeitig genug, um zur Kundgebung beim Bad in der Menge dabei zu sein. Viele der Reden konnten mir Kraft und neue Energie geben. Leider wurden diese kleinen Ressourcen vom Wahnsinn der aktuellen Ereignisse auch schnell wieder aufgebraucht.
Meine mentale Instabilität macht mir weiterhin Sorgen.

Nach der Verbreitung der Protokolle der Verantwortlichen der Coronaverbrechen hatte ich  gehofft, dass etwas in Bewegung geraten, dass eine gesellschaftliche Diskussion angeregt werden würde. Aber bisher ist nichts, rein gar nichts zu bemerken. Ich frage mich, worin dieses „Nichts“ begründet sein kann.
Mein Freund vermutet, dass die Mitläufer und Regierungsgetreuen so verärgert darüber sind, dass Ihre „Gegner“ schon so frühzeitig richtig gelegen haben mit ihren „Verschwörungstheorien“, dass sie nun vor lauter Wut erst recht nichts mit uns zu tun haben und schon gar nicht mit uns darüber reden wollen.
Eine Anekdote aus seiner Firma könnte diese Vermutung bestätigen. Dort geriet eine Diskussion über die RKI-Protokolle so vollends aus dem Ruder, dass der Kollege, der die Diskussion begonnen hatte, im Anschluss zur Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses in beiderseitigem Interesse aufgefordert worden ist.
Das ist doch nicht zu fassen, oder?  

Meine Theorie besteht nun darin, dass die breite Masse der Mitmacher auch weiterhin nicht bereit ist, sich selbst zu informieren, weil sie möglicherweise befürchtet, durch eigenes Denken ihr so gefestigtes Weltbild zu verlieren. Sie halten weiter an den Meinungen des Mainstreams fest und dieser macht es ihnen – durchaus geschickt – sehr einfach, all die Unwahrheiten zu glauben.

Hinter beiden Theorien spielt meiner Meinung nach eine große Angst vor Scham- und Schuldgefühlen eine immense Rolle. Sobald diese Gefühle berührt werden, ist die Gefahr brachialer Aggression nicht auszuschließen – wie die Geschichte aus dem Arbeitskreis meines Freundes zeigt.

PS: wie schmerzhaft es ist, das Weltbild tatsächlich zu verlieren, habe ich am eigenen Leibe erfahren und dieser Verlust ist noch immer als tiefe traumatische Erfahrung in mir. Deshalb ist die Angst davor durchaus verständlich.

Liebe Nora, ich wünsche Ihnen weiterhin die nötige Kraft für Ihr sehr bewegtes Leben und vor allem viel Freude dabei.

Herzliche Grüße ,
Ihre Anna Biosch.

Was darf man sagen?

fragt Sybille aus Kiel Nora in ihrem Brief vom 8. Juli, den Nora leider gerade verlegt hat. Sybille würde gerne einfach immer sagen können, was sie denkt, erlebt aber, dass das häufig nicht möglich ist, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden. In ihrem Brief fragte sie Nora, wie sie das handhabt und will auch wissen, wie sie das früher, zu Zeiten kurz vor dem Mauerfall erlebt hat. In einem Radio-Interview hatte Nora sich bereits kurz dazu geäußert.

Im Zug, 25. Juli 2024

Liebe Paula,

du bist schon die zweite, die mich auf genau diese Aussage im Interview anspricht. Meine Freundin Claudia, zehn Jahre älter und wie ich in der DDR aufgewachsen, allerdings – im Unterschied zu mir damals- systemkritisch, konnte es gar nicht fassen, dass wir in der DDR offenbar in so unterschiedlichen Welten gelebt haben. Irgendwie erinnert mich das an all das, was jetzt mit uns passiert. Auch hier und heute nehmen Menschen die Welt, das Geschehen um uns herum und mit uns offenbar total unterschiedlich wahr.  Das macht ein komisches Gefühl. Schließlich bin ich heute, fünfunddreißig Jahre später, bei aller Toleranz, irgendwie „irritiert“, wie man so die Augen vor dem (für mich so) Offensichtlichen verschließen kann. Diffizil.

Wie war das damals in den Wendejahren? Ich war 17. Also gerade 17 geworden, als die Mauer fiel. Und kannte tatsächlich niemanden, der offen systemkritisch war. Wirklich überhaupt nicht. Über uns wohnte Familie Wolf – Christen, die jeden Sonntag in die Kirche gingen. Wir konnten gut miteinander, überhaupt mit allen im Haus, borgten uns gegenseitig Lebensmittel, plauderten im Hausflur und feierten Hausgemeinschaftsfeste. In meine Klasse ging die Tochter eines selbstständigen Bäckermeisters, in der zehnten Klasse fing sie plötzlich an wie wild zu pauken, einen Platz an der EOS bekam sie dennoch nicht. Ich stellte das nicht in Frage, es gab etliche, die besser waren als sie. Erst später erfuhr ich, dass ihr das Abitur vielleicht eventuell oder wie man heute sagt „mutmaßlich“ auch wegen der Selbstständigkeit ihres Vaters verweigert worden sein könnte.

Mein Leben damals war der Sport. Hockey. Über die ganze DDR verteilt hatte ich meine Hockeyfreunde. Beste Freunde, wie ich glaubte. Zwischen den Turnieren, auf denen wir gegeneinander oder in der DDR-Auswahl miteinander spielten, schrieben wir uns Briefe. Ich dachte, wir kannten uns gut. Bis eine von ihnen plötzlich fort war. Über Ungarn ausgereist nach „drüben“, in den Westen. Meine Welt stand Kopf. Ich war überzeugt, ihre Eltern hatten sie gegen ihren Willen „entführt“. Später, als ich für den Berliner HC und sie bei Frankfurt 1880 in der Bundesliga spielte, trafen wir uns wieder – über ihre Flucht sprachen wir nicht. Auch nicht über unsere gemeinsame Vergangenheit, außer über unseren Nationalmannschaftstrainer, in den wir beide verknallt gewesen waren und der mit der Wende ebenfalls sofort in den Westen verschwunden war.
Meine Schule stand direkt an der Mauer, aus unserem Klassenraum konnten wir rüber schauen, direkt auf eine Schule im Wedding. Es ist verrückt, aber mir taten die Kinder dort leid. Ich war überzeugt, im besseren deutschen Teil zu leben.  Gab es einen besseren und einen schlechteren Teil Deutschlands oder nur andere Teile Deutschlands mit unterschiedlichen Erfahrungen? Was haben wir heute?

Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die wirklich gut, die besser ist?

Pforzheim, 26. Juli 2024

Liebe Sybille, ich schreibe in Etappen. Ich bin unterwegs, fuhr gestern einmal diagonal durch Deutschland nach Pforzheim, um hier nachher einen 97jährigen zu interviewen. Der mir übrigens durch das Radio-Interview, das dich zu deinem Brief an mich veranlasst hat, „zugefallen“ ist. Pforzheim. Ich war noch nie hier, hatte mich gefreut, eine neue Stadt kennenzulernen. Doch dann kam ich hier an und fühlte mich so unendlich allein. So fremd. Mein Zimmer ist nur einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt, sehr praktisch, aber in einem Viertel – so funktional, so unschön und auf der Straße niemand, der Deutsch spricht. Fremde Sprachen – immer laut, bis rücksichtlos. Ich weiß, das ist in anderen Kulturen so. Und hat seine Berechtigung. Dennoch fühle ich mich gerade so fehl am Platz. Ich wohne über Airbnb in einem netten Zimmer, allerdings mit einem Mitbewohner, der permanent durch die ganze Wohnung rennt, dabei in einer fremden Sprache sehr energisch ins Telefon spricht, das er zu allem Übel auch noch auf laut gestellt hat, so dass ich die ebenfalls sehr emotionalen Antworten nicht überhören kann. Werde ich alt und meckerig? Auf dem Hof war bis 23 Uhr Totalbeschallung mit morgenländischer Musik.
Darf ich über dieses Missbehagen schreiben, so öffentlich? Da sind wir bei deiner Frage: Was darf man sagen und was nicht?
Über Russland, die Ukraine, Krieg und Frieden überhaupt, das Drama im Gazastreifen, das Klima, LGBTQ …
Grundsätzlich denke ich: Raus mit deiner Meinung. So handhabe ich das. Meist. Achtsam meine Worte wählend. Je nachdem, wem ich gegenüberstehe.

Da fällt mir eine Episode von der Leipziger Buchmesse ein. Dort hatte ich eine interessante Begegnung mit sehr sympathischen Menschen, wir hatten sofort eine Ebene, waren abends zusammen essen, beschlossen künftig miteinander arbeiten zu wollen und dann kam das Gespräch auf Flüchtlinge … Die wir alle aufnehmen sollten!
2015 zur Zeit der großen Welle dachte ich genauso, habe mich dafür engagiert, habe ein Literaturprojekt mit Kindern angeschoben (das die Idee für eine spätere interaktive Ausstellung gab) und sie gebeten, einen Text zu schreiben zum Thema: Stell dir vor, es ist Krieg und du musst deinen Koffer packen und fliehen ODER: Stell dir vor, an deiner Tür klingelt es und ein Flüchtling bittet um deine Hilfe. Da sind ganz wunderbare Texte entstanden. Wie gesagt, damals wollte ich alle Flüchtlinge aufnehmen … Will ich heute immer noch … Wir müssen helfen. Allerdings und das finde ich ganz wichtig, vor allem auch vor Ort. Einmal, indem wir aufhören, diese Kriege mit unseren Waffen zu befeuern und zu verlängern und zum anderen, indem wir helfen, in den Krisengebieten Wiederaufbau zu betreiben und Strukturen zu schaffen, damit die Menschen dort in ihrer Heimat leben können.
Wenn ich sehe, wie wichtig mir meine Heimat ist, denke ich, dass vielen anderen Menschen, vermutlich den meisten, ihre Heimat ebenso wichtig ist. Die Menschen kommen doch nicht alle her, weil sie schon immer nichts sehnlicher wollten als raus aus ihrem Land …

Ein Freund hat mir kürzlich ein schönes Bild an die Hand gegeben: Angenommen, deinem Nachbarn brennt das Haus nieder. Was machst du? Du räumst ein, zwei Zimmer und bietest ihm an, mit seiner Familie bei dir zu wohnen. Solange bis sein Haus wieder aufgebaut ist. Vielleicht hilfst du ihm sogar beim Wiederaufbau. Wenn es dann aber wieder steht, ist es dir auch wichtig, dass er zurück in sein Haus zieht …

Ich denke, es ist entscheidend, wie wir etwas formulieren. Und auch wieder auf das Gesagte unseres Gegenübers reagieren. Ich bin sehr dafür, erst einmal wirken zu lassen und dann zu durchdenken. Idealerweise auch zu durchfühlen, sich hineinversetzen – das ist schwierig … Und manchmal kommt man nicht zueinander, aber dann ist es meines Erachtens auch wichtig, die Meinung des anderen stehen zu lassen zu können.

Auf der Rückfahrt, 27. Juli 2025

Du schreibst es, die Perspektive wechseln.
Wie wäre es, wenn ich irgendwohin fliehen müsste? Verdammt schwer. Während Corona habe ich mal versucht das durchzuspielen. Habe für die Kinder sogar Pässe anfertigen lassen, für den Fall, dass … Aber wohin hätte ich fliehen wollen? In irgendein Land in Europa, das ähnlich sozialisiert ist wie Deutschland … Aber die tickten ja alle wie Deutschland – außer Schweden. Meine Freundin Jana ist nach Schweden – geflohen nicht, aber doch irgendwie ausgewandert, auf Zeit. In eine Gegend, in der sich viele „Coronaflüchtlinge“ niedergelassen haben, aus allen möglichen Ländern und vorbereitet waren auf weitere Flüchtlinge … Ich habe keine Ahnung, wie die Schweden vor Ort das finden. Gut, unsere Kulturen sind sich ähnlich … Seit Beginn des Jahres ist Jana in einem Sprachkurs und lernt dort mit Menschen aus aller Herren Länder Schwedisch. Der Kurs soll großartig sein, verbindend.

Verbindend – seit der Trennung von Jens, merke ich immer mehr, wie wichtig mir dieses Verbundensein mit anderen Menschen ist. Sprache ist für mich dabei ein essentieller Faktor. Wenn ich nun also weiterspinne, ich bin geflohen und irgendwo gelandet, würde ich mich vermutlich auch bemühen dort unterzukommen, wo schon etliche andere Deutsche sind, wo meine Sprache gesprochen und meine Kultur gelebt wird.
Vorhin war ich noch einmal bei Hans, „meinem“ fast Hundertjährigen, wir standen auf seiner riesigen Dachterrasse und sahen über die Dächer von Pforzheim hinein in den Schwarzwald. Was für ein Perspektivwechsel – Pforzheim sah gleich viel ansprechender aus. Während unseres Interviews hatte ich auch den großen Ausländeranteil in der Stadt angesprochen. Die Einheimischen sind darüber nicht glücklich und die Zahl der AfD-Protestwähler, sagte mir Hans, sei bei der letzten Wahl weiter gestiegen.
Ich habe mal gegoogelt: „Mit 6,6 Prozent ist Pforzheim landesweit die Stadt mit dem höchsten Bevölkerungsanteil an Asylbewerbern …  Insgesamt hat Pforzheim aktuell einen Ausländeranteil von 30 Prozent. Das ist ein Spitzenwert im Land.

Warum, fragte ich Hans, kommen so viele Flüchtlinge ausgerechnet nach Pforzheim? Hans hat keine Ahnung, zeigte mir in der Ferne aber eine Hochhaussiedlung, in der schon in der Zeit als seine Kinder noch Kinder waren, der Zuzug von Russen enorm war. „Ich denke“, sagte er, „die haben nach und nach ihre Verwandten und Freunde nachgeholt.
Ich bin wieder im Perspektivwechsel: Das würde ich genauso machen. Hundertprozentig.
Aber würde es mich nicht irgendwann wieder in die Heimat ziehen?
Nun kommt es auf die Gründe für die Flucht an. Darauf, ob sich die Verhältnisse zu Hause geändert haben … Ob ich mich im Asyl (aus heutiger Sicht wider Erwarten) vielleicht wohl und heimisch fühle.
Was ich sicher weiß, ich würde sofort beginnen, die Sprache zu lernen.
Sprache – meine Sprache ist Voraussetzung, das zu tun, das zu arbeiten, was für mich Lebenselixier ist – schreiben! Auch die Lerntherapie lebt von meiner Sprache.
Meine Freundin Evi ist seit sechs Wochen in einen Litauer verliebt. Körperlich, sagt sie, ist das ein einziger Freudentanz, zunehmend jedoch vermisst sie Möglichkeit sich tief austauschen zu können. Die ÜbersetzungsApp hilft, ist aber doch sehr begrenzt …

Manomanoman Paula, du merkst, du hast was angestoßen. Das ist ein, Fontane würde sagen, weites Feld … Fontane – deutsche Literatur, deutsche Kultur, deutsche Musik, deutsche Philosophie – all das ist mir enorm wichtig …
Wie den vielen fremdsprachigen Menschen, in dem Pforzheimer Viertel, in dem ich gewohnt habe, ihre Kultur …

Kürzlich war ich im Prenzlauer Berg bei einer Freundin zur Einweihungsparty eingeladen – wir waren acht Frauen, die sich alle nicht kannten, darunter eine Türkin, eine Kurdin und eine Dänin. Wir waren begierig voneinander zu erfahren, hatten bei aller unterschiedlichen Kultur als Frauen ähnliche Themen – waren sofort, für mich überraschend, tief verbunden.

Wie wäre es gewesen, wenn mich, die mir in Pforzheim so fremd erscheinenden Menschen, eingeladen hätten an den Tisch, an dem sie saßen, und so laut und wild gestikulierend aufeinander einredeten? Heute Morgen wechselte ich einmal die Straßenseite, weil ich dachte, da würden sich zwei Männer in den Haaren haben, aber nein, sie kabbelten sich freundschaftlich …

Was darf man sagen und was nicht? Ich bin gerade mit meiner Sitznachbarin im Zug ins Gespräch gekommen, habe ihr von meinem Fremdsein im deutschen Pforzheim erzählt und auch davon, was ich hier schreibe … hey Sybille, wieder einmal hat es funktioniert, ich sage, was ich denke, durchdenke vorher, was ich sage und erlebe, dass ich es sagen kann, dass mir zugehört wird, wir ins Gespräch kommen, Ansichten tauschen … Das macht mich gerade sehr glücklich.

Und bestätigt meine bisherige Erfahrung. Authentisch sein. Miteinander reden, einander zuhören …

Wieder zu Hause, 28. Juli 2024

Das Thema lässt mich gar nicht los. Tatsächlich bewege ich die Frage danach, wie wichtig nationale Kulturen sind (ist „national“ hier richtig? – kann das gegen mich verwendet werden? Ich verstehe immer besser, was du meinst, wenn du fragst: „Was darf man sagen, was nicht?“) schon lange in mir. Da kommen Gedanken, unvollendete – ich merke, ich brauche da Austausch, die Ideen und Gedanken anderer, um meine Meinung zu finden.
Deutsches Kulturgut – was ist das eigentlich. Was gehört dazu. Wie erhaltenswert ist es? Wie präsent gehört es in unser Leben? In unser Werden und Wachsen? In die Schulen? Wie ist das, wenn in den Klassen immer mehr Kinder sind, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen? Die nach der Schule wieder in ihre Gemeinschaften verschwinden und dort natürlich kein Deutsch sprechen. Was hat das für Auswirkungen auf den Bildungserfolg innerhalb einer solchen Klasse. Ich merke hier ploppt ein Thema nach dem anderen auf. Da hängt so viel dran.
Wie gehen wir damit um? Also auch die Politik?

Meines Erachtens muss das dringend thematisiert werden. Doch dann besteht wieder die Gefahr, in eine – rechte – Ecke geschoben zu werden. Das passiert. Kürzlich erzählte mir meine Freundin Grit, dass sie sich mit ihrer Tochter darüber unterhalten wollte, wie befremdlich es für sie ist, in Berlin zu erleben, dass dort mehr fremdländische Menschen unterwegs sind als deutsche. Ihre Tochter unterstellte ihr sofort eine Rassistin zu sein. Grit war ganz irritiert und ist besorgt, weil ihrer Tochter die demografische Entwicklung offenbar egal ist. In meinem Briefwechsel aus der Coronazeit habe ich öfter geschrieben, was ist richtig, was ist falsch? Wie sollen wir das rausbekommen, wenn wir nicht darüber reden können?

Und ich schreibe und schreibe und merke zwischendurch immer wieder, wie ich mich hinterfrage, ob ich diesen Brief an dich, öffentlich auf meinen Blog stellen kann? Und auch, wie du reagieren wirst? Darf ich das alles schreiben? Denken? JAAA! Wie sonst soll ich denn zu anderen Ansichten kommen. Ich bin doch ganz begierig zu erfahren, wie andere Menschen auf dieses Thema schauen. Vielleicht ist es ja gut, wenn sich alle Kulturen mischen. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir die deutsche Kultur wichtig ist und ich sie bewahrt haben möchte, in den Schulen thematisiert, auf den Theaterbühnen dargestellt – ich mag die Veranglizismung der deutschen Sprache nicht. Möglicherweise bin ich da aber auch beschränkt. Vielleicht ist es ja gut, wenn sich irgendwann alle Menschen in ein und derselben Sprache verständigen können? Vielleicht fehlt aber auch etwas, die Vielfalt???? 

Mir brummt der Kopf. Ich habe so viele Gedanken dazu.
Die kann ich gar nicht alle einen Brief packen. Rechne damit, dass noch mehr kommt 😉

Ich komme zurück auf dein Geschriebenes – deinen Kollegen, der schilderte, was er unter den Russen erlebt hat. Was hat er erlebt?
Hans, „meinem“ fast Hundertjährigen habe ich am Samstag das Buch „Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine. Fast Hundertjährige erzählen“ geschenkt. Hans ist kein Leser, aber gestern erzählte er mir, dass er die ersten beiden Geschichten schon gelesen habe und ganz erstaunt sei, wie unterschiedlich die beiden gerade die Kriegszeit im Vergleich zu ihm erlebt hatten. Für ihn war der Krieg nicht schlimm – ein bisschen Flak, dann die Ausbildung und dann schon die Kriegsgefangenschaft – die für ihn eine tolle Zeit war.  Nichts mit verpasster Jugend, sondern Möglichkeiten …
Für mich waren die Russen immer unsere Freunde. Ich war in der „Gesellschaft für  deutsch-sowjetischen Freundschaft“  hatte immer russische Brieffreundinnen und einen Hockeyförderer, der mich an die Sportschule nach Moskau holen wollte. Welch Verlockung, dann aber auch wieder nicht, ich war sprach-, familien-, freunde- und heimatverbunden. Damals schon. Nicht reisen zu können, war nie ein Thema für mich. Ich konnte ja reisen. Ich war in Polen, in der CSSR, hätte nach Bulgarien gekonnt, in die SU, an den Balaton – das hat mich gar nicht gelockt …

Jetzt rief meine Steuerfachfrau an, ich habe ihr sofort von meinem, unserem Thema erzählt – sie, Jahrgang ´51 versteht mich total. Ihr Vater war Sekretär für Agitation. Die Welt der „Widerständler“ kannte sie nicht, die gab es für sie nicht, genauso wenig wie für mich. Verrückt. Gut, ich war jung? War sie blind?
Da fällt mir Ulrich ein, ein ehemaliger Stasi-Offizier, von dem ich in dem Buch „Wege“ gelesen habe. Er erzählt, dass er zur Stasi gegangen sei, um …

Nee, Paula, ich merke das Fass ist für heute und morgen zu groß, ich muss erst mal schnell mein Buch zu Ende schreiben, dann setzte ich hier nahtlos fort …
Erzähle von den vielen DDR-Widerständlern, mit denen ich befreundet bin, die eine ganz andere DDR erlebt haben …

Wir müssen über all das reden können. Auch über die AfD und mit der AfD und darüber … jetzt fange ich schon wieder an. Der Reis kocht gleich über.
Ein nächster Brief folgt. Heißes Eisen, viele Gedanken … Austauschbedarf.
Bis gleich, Nora.

Es geschah Unrecht – Bitte lesen! Bitte teilen!

Die letzten Jahre sitzen noch im Rückenmark

Löcknitz, 25. Juli 2024

Liebe Nora,

bluppp, da bin ich wieder. Aufgetaucht. Mit Geschichten hier aus dem Dorf, das glaubst du nicht. Aber die erzähle ich dir ein anderes Mal. Jetzt will ich dir nur schnell schreiben, was ich gerade getan habe, mit Herzbibbern und Schiss ohne Ende. Aber es musste sein und ich habe es durchgezogen … Bist du schon neugierig?
Ich bin so froh, dass endlich diese RKI-Files draußen sind und endlich auch die Mainstreampresse nicht mehr daran vorbeikommt. Ein innerer Vorbeimarsch war mir dann heute Morgen die Schlagzeile in der Bildzeitung: Corona-Experten wussten, dass die Regierung lügt. BÄHM!
Ich hoffe so sehr, dass das jetzt Bewegung und Nachbetrachtung hier nach Löcknitz in die Riege der ganzen EinserSchüler und Ausgrenzerfreunde bringt. Ich habe den Artikel gerade im Netzwerk Löcknitz-für-Toleranz geteilt. Huh, frage nicht, was mich das für Überwindung gekostet hat. Ich saß vor meinem Handy, hatte den Artikel eingestellt und dachte: Nein, ich trau mich, ich trau mich nicht. Durch meinen Kopf und Körper schossen total abgefahrene Reaktionen. Ich zitterte, fühlte Scham, mich schon wieder mit meiner Sicht aufzudrängen, dachte: Das hat doch alles eh keinen Sinn, das ist Müll von gestern, gib doch endlich Ruhe, du nervst … Das ganze Programm.
Das hat mich eiskalt erwischt und ich merkte wie mir die letzten Jahre noch im Rückenmark sitzen. Gleichzeitig hörte ich aber ganz deutlich eine Stimme in mir, die sagte: Gut, dass du das tust, mach die erlebte Ausgrenzung sichtbar. Zumal die ja hier alle munter weitermachen mit ihrer Ausgrenzung, rechts, links, oben, unten (davon beim nächsten Mal!)
Beim Absenden hatte ich richtig weiche, eigentlich sagt man Knie, aber bei mir war alles weich. Es ist krass zu merken, wie tief dieser Ausgrenzungsschreck in mir sitzt, diese Scham, sich gezeigt zu haben, als jemand, der anders ist. Das hatte ich nicht erwartet. Das hat mich echt kurz umgehauen.
Aber nun bin ich da durch, erst einmal – der Artikel ist in der Löcknitz-Welt. Das war wie ein Befreiuung und höchste Eisenbahn! Wirklich. Das hat mir richtig Luft verschafft. Dazu habe ich noch geschrieben: Bitte lesen! Bitte teilen! Die Ausgrenzerei in der Coronazeit hat tiefe Wunden in unserer Gemeinschaft hinterlassen, ich fühle mich ein bisschen rehabilitiert und das fühlt sich gut an.
Auch die Angst ist weg. Und die vorige Resignation. Mir tut es gut zu wissen, dass in der Bildzeitung prominent zu lesen ist, dass Unrecht geschah.
Zwar hege ich wenig Hoffnung auf die große Aufarbeitung und Rehabilitation, aber ich mir sicher, dass es Kanäle öffnet und zu privaten Reflexionen ermuntert. Schaun wir mal …

Liebe Grüße,
Emma.

 

Lest hier Noras letzten Brief an Emma.