Mir fehlen die Worte

Mir fehlen die Worte

In ihrem letzten Brief vom 21. Oktober erzählt Noras Zufallsbekannschaft, die 19-jährige Marie von ihren Erfahrungen während der CoronaZeit.

Pinnow, 1. Dezember 2024

Liebe Marie,

was für ein Bericht. Ich danke dir sehr. Und bin erschüttert. Krass, dieses Plexiglas – wer denkt sich so etwas aus? Offenbar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es dir dahinter geht. Aber nein, du schreibst, du hast es ihnen gesagt und dabei bitterlich geweint, alle wussten Bescheid – es ging darum, dich auszugrenzen. Mir fehlen die Worte.
Meine Clara fragt: Was ist falsch mit den Menschen? Ich frage, wo ist die Empathie? Einfach dieses Vermögen, sich in den anderen hineinzuversetzen? Von uns wurde das die ganze Zeit verlangt: Solidarität.

Kennst du das Kinderbuch: Und damals war es Friedrich? Ich sehe deutliche Parallelen. Aber das darf man ja nicht sagen.

Wenn ich lese, was du schreibst, schüttele ich die ganze Zeit den Kopf. Wie hast du das weggesteckt. Unbeschadet. Bist du unbeschadet? Das ist doch ein Trauma. Wahrscheinlich gleich mehrere – Traumata. Machst du irgendetwas, um das aufzuarbeiten, zu verarbeiten?

Als Mutter frage ich mich, wie es deinen Eltern erging. Gab es die Überlegung dich aus der Schule zu nehmen? Was war mit deinen Geschwistern? Konnten eure Eltern euch auffangen?
In welcher Schule bist du jetzt? Noch in derselben? Wenn ja, wie geht das? So wie vielfach um uns herum – einfach weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre?

Liebe Marie,
15 warst du …
mir kommen die Tränen. Da sitzt etwas. Ich bin ja immer versucht, im Austausch zu sein. Spüre aber oft ein großes Bestreben zu verschweigen, wegzudrücken …

Ich danke dir sehr, dass du hilfst festzuhalten, zu erinnern.
Ganz liebe Grüße,
Nora.

PS: In dem Buch, das ich zur Zeit lese (Jenseits des Abgrunds) bin ich gerade vorhin an einem Abschnitt hängen geblieben, der genau auf dich und deine Situation passt:
„Und keiner seiner Klassenkameraden hat etwas unternommen?“ fragte ich empört.
„Manche haben gelacht
Andere empfanden wohl Mitleid mit ihm, schauten aber weg. Schon Einstein hat gesagt: Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern denen, die Böses zulassen. „

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