In mir war ein wahnsinniger Schmerz

In mir war ein wahnsinniger Schmerz

Vor etwas mehr als einem Jahr lernte Nora während eines Benefiz-Konzerts für Julian Assange die damals 17-jährige Marie kennen. Bisher tauschten die beiden zwei Briefe.
Maries Brief
Noras Antwort

Berlin, 21. Oktober 2024

Liebe Nora,

nun habe ich dich warten lassen. Aber ich musste dann doch erst noch einmal tiefer in mich gehen und habe dabei festgestellt, dass ich einige Erlebnisse tatsächlich vergessen habe. Verdrängt. Gestrichen. Es war so viel. Vier lange Jahre. Und nun scheint es schon wieder so lange her, so weit weg. Dabei ist es das gar nicht. Sondern nur abgehakt. Bei vielen. Aber auch das nur scheinbar. In uns schlummert es. Was für eine krasse Zeit.

Also: Wie war das?
Ich war 14 als es losging, wurde 15 als die Krise schon voll im Gange war und diese Panik in der Gesellschaft verbreitet wurde.
Die ersten zwei Wochen waren wir als Familie auch in Sorge, was da jetzt wohl kommen würde, aber dann wurde uns ziemlich schnell klar, dass da etwas nicht so gut läuft. Wir, das sind meine Eltern und meine drei Geschwister, ließen uns von unserem Hausarzt alle Maskenatteste verschreiben. Aus Widerstandsgründen, ich wollte mich diesem Widersinn nicht unterwerfen, aber natürlich auch aus gesundheitlichen Gründen – das hält ja keiner aus, so viele Stunden unter, hinter (wie sagt man?) einer Maske zu sitzen.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass man mich in der Schule, als ich mein Maskenattest vorlegte, kurzerhand hinter Plexiglas setzen würde. Ganz hinten in der Klasse – aus heutiger Sicht witziger oder vielmehr ironischer Weise – in der rechten Ecke.
Ich schicke dir mal ein Foto mit, damit du eine Vorstellung hast. Rund um mich, in einem U stand dieses Plexiglas. Ich saß wie in einem Aquarium. Fast. Denn das Plexiglas war nicht mal einen halben Meter hoch, das heißt: es hat überhaupt keinen Sinn ergeben. Es ging nur darum zu zeigen, mich von den anderen fernzuhalten, vor allem aber zu zeigen, dass ich nicht dazu gehöre.
Ich war 15 Jahre alt, als das geschah.

Nachdem das Plexiglas stand, wurde noch ein Regelwerk für den Umgang mit mir aufgestellt. Als dieses Regelwerk besprochen und beschlossen wurde saßen wir alle in einem Stuhlkreis – alle hatten eine Maske auf, nur ich nicht.
Das war eine traumatische Situation, weil ich ja wirklich ganz alleine war. Auch mit meiner Meinung, die ich offen geäußert habe, weil ich zu meiner Sicht auf die Situation stehen wollte. Dadurch wurde es mit der Maskenbefreiung natürlich noch problematischer.
In diesem Stuhlkreis nun habe ich erzählt, wie ich mich fühle und dabei bitterlich geweint.
Stell dir vor, es ist niemand, wirklich NIEMAND zu mir gekommen und hat ein tröstendes oder versöhnliches Wort gesagt. Seit acht Jahren gingen wir zusammen in dieselbe Klasse, wir waren verbunden, hatten eine gemeinsame Vergangenheit …
Das ist die Stelle, an der ich merke, da sind Erinnerungen weggerutscht, weil es so schrecklich war. Da war ein Ausmaß an Ausgrenzung erreicht, dass man gar nicht richtig fassen kann. Da saßen Gleichaltrige, von denen ich hämisch angegrinst und erniedrigt wurde und niemand hat das Wort ergriffen und gesagt: Hey, das kann doch nicht sein.

Es ist schwer, diese Dimension, die in so vielen Bereichen stattgefunden hat, zu begreifen. Es erinnert wirklich an diese andere schreckliche Zeit, als abgestempelt und ausgegrenzt wurde. Damals wie zu Corona interessierte überhaupt nicht, was für ein Mensch da vor einem steht, dass da ein Mensch vor einem steht, den man so behandelt.
Es war wirklich äußerst unwürdig und unmenschlich.

In mir war ein wahnsinniger Schmerz.
Es war eine unglaubliche Zeit hinter diesem Plexiglas.
Gleichzeitig habe ich in dieser Situation natürlich wahnsinnig viel gelernt.
Glücklicher Weise habe ich immer meinen wachen Blick für die Dinge behalten, und der wurde durch die Ausgrenzung noch einmal verstärkt. Und mein Widerstand auch.

Ja, so war das liebe Nora.
Danke, dass du das festhältst.

Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.
Achso: und wenn du Fragen hast, frage 😊

Liebe Grüße, Marie.

Ein Gedanke zu „In mir war ein wahnsinniger Schmerz“

  1. Wenn ich das lese, ist das Gefühl aus dieser Zeit sofort zurück. Es war ja nicht allein, dass man ausgeschlossen wurde von Menschen, mit denen man schon lange bekannt war.
    Schmerzhafter war, dass das so ohne Bedauern passierte, ohne den Willen zu reflektieren, dass es sich um eine Diskriminierung gesunder Menschen handelt, nicht um eine „Absonderung“ von Leuten, wie sie die das Infektionsschutzgesetz vor 2020 vorsah.
    Maries Bericht berührt mich sehr. Was sie durchmachen musste, gerade in einer Zeit, in dem einem die Gleichaltrigen wichtiger werden als die Familie…
    Liebe Marie, Du kannst stolz sein, dass Du diese Zeit durchgestanden hast, ohne aufzugeben!
    Du weißt jetzt, wie Menschen gegeneinander aufgebracht werden können, wenn die richtige Propaganda eingesetzt wird. Diese Erfahrung wird Dir im Leben nützlich sein. Und Du weißt, dass Du auf Deine Kraft (heute wird es ja Resilienz genannt) vertrauen kannst, auch hohem Druck standzuhalten.
    Es macht mich froh, dass es junge Menschen wie Dich gibt, die sich trauen, selbst zu denken und zu dem zu stehen, wovon sie überzeugt sind, auch wenn es schwierig wird.

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