Gegen das Vergessen

Wißt ihr noch, was am 15. März 2022 los war?

 

Ihr lieben Alle,

wißt ihr noch, was heute vor zwei Jahren los war?
Ich wüsste es nicht, wenn ich damals nicht Tagebuch geführt hätte. Sechs Monate lang von Oktober 2021 bis März 2022 – Tagebuch
einer  VER-RÜCKTEN Zeit. Im März gingen mir schon die Kräfte aus. Da gab es nur noch vier Einträge. Der vorletzte ist vom 15. März 2022.

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15. März 2022

Heute ist der lange Zeit gefürchtete Tag. Der 15. März. Ab heute soll die Impfpflicht für alle im Gesundheitswesen Beschäftigten gelten. Ich bin so froh, dass uns, also Jens, dieses Thema dank seines / unseres Genesenenstatus´ vorerst nicht mehr unmittelbar bedroht.
Voreerst. Denn ab morgen wird im Bundestag über die allgemeine Impfpflicht ab Oktober verhandelt.
Bekommt das überhaupt jemand mit (außer uns Impfunwilligen)?
In den Medien ist Corona in den „Untergrund“ gerückt. Die Inzidenz steigt weiter. In Brandenburg steht die KlinikAmpel angeblich auf Rot. Deshalb wird Brandenburg weiter an allen Regeln festhalten.
Es ist alles so durchschaubar. Wie schon wieder alles aufgebaut. Heimlich, hinter den Kriegsschlagzeilen.

In einem Telefonat versorgte mich Hartmut mit den neuesten Neuigkeiten aus der Corona-Klatschszene:
Heute Morgen Anruf von der ehemaligen Chefbuchhalterin eines Staatsgutes: „Hartmut, du musst mir helfen! Ich sitze in Karlshagen auf Usedom fest. Ich bin in der Reha  und positiv getestet Ich muss hier raus, aber mein Mann lässt mich positiv getestet nicht ins Haus. Ich weiß nicht, wo ich hin soll… Nun zieht sie morgen in unser Wanderhaus ein und kann dort erst einmal für eine Woche bleiben.
  Kaum aufgelegt, klingelt es wieder. Professor M., 86 Jahre, wohnhaft in einem Schloss in Polen, ist wegen Herzschwäche in Pasewalk im Krankenhaus, wird entlassen, ist aber während der Behandlung positiv getestet worden. Jetzt fährt ihn kein Taxiunternehmen nach Hause, weil das Krankenhaus das Taxiunternehmen informiert hat, dass er positiv getestet war. Er war ratlos, wie sollte er nach Hause kommen? Unser Seniorenbesuchsdienst hat ihn erst einmal nach Penkun gebracht und von dort hat ihn ein Pole abgeholt und nach Hause gefahren.
  Ein paar Minuten später klingelt die Hausmutter unseres Alterswohnhauses. Dort wohnt eine ältere Dame, die mich – Corona-Aufmüpfigen – angezeigt hat, weil ich verhindert habe, dass im Haus die Maskenpflicht durchgesetzt wird. Inzwischen, das erzählte mir die Hausmutter, hat sie so viele Impfnebenwirkungen, dass der Arzt nicht anders konnte, als ihr zu bestätigen, dass all ihre Symptome Folgen der Impfung sind.

Impfnebenwirkungen – auch meine neue Zahnärztin erzählt mir von den vielen Impfnebenwirkungen, die sie in ihrer Praxis sieht. Am meisten erschreckte sie eine 19-jährige Abiturientin, die beim letzten Besuch im vergangenen Jahr vor Tatendrang strotzte und nach dem Abi erst einmal die Welt bereisen wollte. Kurz vor Weihnachten ließ sie sich impfen. Ein paar Tage später erlitt sie eine Lungenembolie. Nun ist sie nicht mehr dieselbe. Alle zwei Wochen muss sie in ärztliche Behandlung und immer wird mit neuen Medikamenten experimentiert. Bislang ohne Erfolg.
Bei drei Patienten hat die Sehkraft enorm nachgelassen.
Hemiparese, Muskelzittern, Herzstechen…
Notfallsanitäter von der benachbarten Feuerwache bestätigen ihr, dass sie seit Beginn der Impfungen wesentlich öfter im Einsatz sind.

Ich habe einen Apfelbaum gepflanzt. Einen Hasenkopf.
Außerdem sprießt es auf meinen Permakulturbeeten. Am Samstag bauen wir ein Gewächshaus auf.
Ich sehe schon unsere Bienenwiese.

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Wenn wir denken, Corona sei vor bei, liegen wir, m.E. gründlich falsch, Corona war nur der Anfang. Und wir haben schon wieder so viel vergessen.
Ich will festhalten, notieren, damit wir eines Tages aufarbeiten können.
Ihr seid nach wie vor eingeladen, euch zu beteiligen.

Liebe Grüße,
Nora.

 

Nora – 12. November 2023

Der erste Fragebogenrückläufer – Noras Vater Jo hält Rückschau

Pinnow, 12. November 2023

Liebe Hannelore,

ich bin beunruhigt, so gar nichts von dir zu hören. Geht es dir gut? Vermutlich hast du wieder nur immens viel zu tun, du Umtriebige. Oder gärt da etwas Tieferes? Das vermeintlich Unsolidaraische? Lass uns darüber reden!
Vielleicht motiviert es dich ja zu hören, das Papa wieder der erste war, der auf den neuen Fragebogen geantwortet hat. Unglaublich, wie er im Alter an Tempo zulegt. Ich schicke dir seine Antworten und hoffe, sie motivieren dich.
Ich freue mich von dir zu lesen,
ganz liebe Grüße,
Nora.

 

Wie ging es dir in der CoronaZeit? Drei lange Jahre?

Wir, meine Frau und ich (72 und 77 Jahre alt) sind in der engeren Familie die einzigen, die bisher „coronafrei“ geblieben sind. Altersbedingt sind wir sehr vorsichtig gewesen, haben uns drei Mal impfen lassen, haben in der Zeit von 2019 bis Anfang 2023 Masken getragen und unnötige Kontakte und insbesondere Kontakte in größeren Gruppen vermieden.  Wir haben in dieser Zeit weitestgehend keine öffentlichen Nahverkehrsmittel genutzt.

Wie hast du die CoronaZeit erlebt? Drei lange Jahre lang? Was hast du gedacht, gefühlt, beobachtet?

Die CoronaZeit war für mich eine Zeit starker persönlicher Verunsicherung.

Zeitnah nach meiner ersten Corona Impfung erkrankte ich an Rheuma. Aufgrund der zeitlichen Nähe zur Coronaimpfung schloss ich das Rheuma als eine Nebenwirkung der Impfung nicht aus. Ich wendete mich an das Robert-Koch-Institut, an das Paul-Ehrlich-Institut, an das Deutsche Rheumaforschungszentrum, an das  Deutsches-Zentrum für Immuntherapie und natürlich auch an meine Rheumaärzte und bat um Informationen darüber, ob ein Zusammenhang zwischen der Impfung und meiner Rheumaerkrankung bestehen könnte. Die Antworten liefen auf Folgendes hinaus: „Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Arthritis ist laut unserer Experten nicht belegt.“  Nicht belegt heißt natürlich nicht, dass ein solcher Zusammenhang ausgeschlossen werden kann. Ich war in einer Phase großer Verunsicherung ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen. Für mich war Corona eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, für die es keine gesicherten Erkenntnisse gab und auch nicht geben konnte. Im Bewusstsein möglicher Risiken und einer persönlichen Risikoabwägung entschied ich mich dann doch für eine zweite und dritte Boosterimpfung. Mit dieser Risikoabwägung schätzte ich für mich die möglichen negativen Folgen einer Nichtimpfung höher ein als die Risiken eines möglichen Impfschadens. Nach den Boosterimpfungen hatte ich keine Nebenwirkungen.

Wie hat sich dein Denken, Fühlen und Beobachten über die drei Jahre verändert?

Mein Fühlen und Beobachten des gesellschaftlichen Umgangs mit der Pandemie hat sich grundlegend über den Zeitraum der Pandemie nicht verändert. Vermutlich kann ich dieses Fühlen jetzt nur genauer Beschreiben. Corona ist eine ernst zu nehmende Pandemie, auf die, die Menschheit nicht vorbereitet war.  In allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere in der Politik, mussten  Entscheidungen getroffen werden, deren Richtigkeit und Wirksamkeit ungewiss waren. Diese Ungewissheit war objektiv gegeben.  Die namentlich durch die Politik zu treffenden Entscheidungen waren objektiv mit dem Risiko verbunden, dass sie falsch sein können. Ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an die Habilitationsschrift eines Freundes zum Thema „Entscheidungstheoretische Aussagen zum Risiko …“ In seiner Arbeitsthese charakterisierte er das Risiko als die aus der Unbestimmtheit resultierende Möglichkeit, dass die Verwirklichung einer ausgewählten Entscheidungsvariante nicht zur Erreichung des angestrebten Ziels führt.“ Die Coronazeit war für mich objektiv eine Zeit der Ungewissheit, der Unbestimmtheit. Es war eine risikobehaftete Zeit. Dafür kann niemand verantwortlich gemacht werden. Diese Unbestimmtheit und Ungewissheit schließt auch kontroverse Meinungen zum Umgang mit der Pandemie ein. Das schließt auch ein, dass ich andere Meinungen zur Krisenbewältigung aushalten und akzeptieren muss.  Nicht bereit war und bin ich allerdings, Corona zu verharmlosen. Rückblickend muss ich Doreen Mechsner danken, dass sie deinen Austausch mit Hannelore, der genau das thematisiert, aufgegriffen und als „Briefwechsel“ veröffentlicht hat. Unbestimmtheiten, Ungewissheiten implizieren unterschiedliche Meinungen und Haltungen. Das ist objektiv so und muss im Diskurs ausgehalten und gegenseitig respektiert werden.  Das setzt einen respektvollen Umgang miteinander voraus. Diesem Anspruch ist unsere Gesellschaft nicht gerecht geworden. Das macht mir hinsichtlich des Zustandes unserer Gesellschaft große Sorgen.

Was hat dich besorgt? Geängstigt? Geärgert?

Besorgt, geärgert und mehr als genervt hat mich der gesellschaftliche Umgang mit der Pandemie. Das ist ein breites Thema. Ich versuche es auf den Punkt zu bringen. Die objektiv gegebene Unbestimmtheit im Umgang mit der Pandemie wurde in oft unverantwortlicher Weise durch parteipolitische Profilierungssucht von Politikern und wohl auch von Wissenschaftlern und Medizinern missbraucht. Vulgärpolitiker (Trump, Bolsonaro, Lukaschenko) verharmlosten die Pandemie. Andere Politiker versuchten sich durch pausenlose Präsenz in den Medien hervorzutun. Landespolitiker nutzten unser förderalistisches System um sich in einem Überbietungswettbewerb ergriffener Maßnahmen  zu profilieren und stürzten Deutschland in einen regionalen Flickenteppich sich widersprechender Maßnahmen.  Die Medienpolitik nervte mich mit ihrer  über jedes erträgliche Maß hinausgehenden inflationären Thematisierung der Corona Krise. Die Medien und Politik trugen durch pauschalisierende Verurteilung derjenigen, die die durch die Politik ergriffenen Maßnahmen kritisch hinterfragten, zu einem angeheizten Lagerdenken bei. Inzwischen hat sich gezeigt, dass lange nicht alle durch die Politik ergriffenen Maßnahmen zielführend waren und dass kritisches Hinterfragen durchaus berechtigt war (z.B. hinsichtlich der bildungspolitischen Folgen für die Schülergeneration). Ich vermisse eine Entschuldigung bei denjenigen, die für berechtigtes kritisches Hinterfragen diskriminiert wurden. (Ich betone hier für berechtigtes (!) kritisches Hinterfragen; meine also nicht diejenigen, die die Gefährlichkeit der Pandemie verharmlosten. Zum berechtigten kritischen Hinterfragen gehört auch die Ablehnung einer Corona-Impflicht. Die durch die Regierungspolitik betriebene Corona-Impflicht kann (und muss wohl auch) scharf gegeißelt  werden. Was aber gar nicht geht ist, dass Impfgegner die Impfpolitik der Regierung als faschistisch bezeichneten. Das ist eine gefährliche Verharmlosung des Faschismus.)

Sorge bereitet mir also unser politisches System, welches sich vorrangig an machtpolitischen und parteipolitischen Interessen orientiert  und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Ich bin tief besorgt.

Wie bist du den unterschiedlichsten Situationen, wie mit den Maßnahmen umgegangen?

Sorge bereitet mir die Erkenntnis, das Corona noch nicht ausgestanden ist. Da sind zum einen die Long Covid Erkrankungen. In meinem Bekanntenkreis gibt es eine solche Long Covid Erkrankung und nach jetzigem Erkenntnisstand steht die Medizin diesem Phänomen ziemlich hilflos gegenüber. Hier unterstütze ich Initiativen des Gesundheitsministers für mehr Unterstützung Betroffener und in der Bereitstellung von Forschungsmitteln. Zum anderen bin ich nach wie vor hinsichtlich von Boosterimpfungen verunsichert. Impfschäden durch die Corona-Impfung dürfen nicht ausgeblendet werden und diejenigen, die sich mit Blick auf mögliche Impfschäden nicht impfen lassen wollen, dürfen nicht pauschal verunglimpft werden. Impfzwang bei Corona lehne ich ab. (Impfungen, nicht nur Corona-Impfungen, sind ein gesondertes Thema: „Ausgereifte“ Impfungen haben sich in der Medizingeschichte als ein Segen für die Menschheit herausgestellt. Die Coronaimpfung ist aus meiner Sicht (noch) nicht ausgereift. Ich bin für Impfungen, wenn diese „ausgereift“ sind; z. B. Impfungen gegen Masern. Ich bin gegen Impfpflicht bei „nicht ausgereiften“ Impfungen.  )

Wie ist deine Familie/ wie seid ihr als Familie miteinander in dieser Situation und mit dieser außerordentlichen Situation umgegangen?

Natürlich gab und gibt es auch in meiner Familie unterschiedliche, z. T. auch konträre Auffassungen und Meinungen zur Pandemie und den zu ergreifenden Maßnahmen. Wie oben schon gesagt, ist das objektiv der Ungewissheit geschuldet, die eine solche, für die Menschheit unbekannte, Pandemie mit sich bringt. Die so bedingten subjektiv unterschiedlichen Sichtweisen haben meine Familie nicht entzweit.

Was hast du in dieser Zeit über dich gelernt?

Wichtig ist es anderen zuzuhören und sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Dafür gibt es im Diskurs eine gute Strategie. Bevor ich in einer hitzigen Diskussion antworte, sollte ich für mich gedanklich die Argumentation meines Gegenübers wiederholen und erst dann antworten. Das hilft dabei, nicht aneinander vorbeizureden. … und wenn es gar zu arg wird, sollte man eine Nacht drüber schlafen.

Was über dein Land und die Gesellschaft, in der wir leben? Was denkst du heute über diese Zeit? Wie verhältst du dich gegenüber den neuen (alten) Krisen dieser Zeit?

Ich wiederhole mit Nachdruck: Über den Zustand unserer Gesellschaft bin ich zutiefst beunruhigt, Es dominieren kurzfristige parteipolitischen und machtpolitischen Interessen. Gesellschaftliche Visionen fehlen diesem, unserem Land. Das betrifft nicht nur den Zustand unserer Gesellschaft im Umgang mit der Pandemie, sondern insgesamt den Umgang mit den geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit (Krieg und Frieden, Rüstungspolitik  Klimapolitik, Migrationspolitik, Bildungspolitik, …) Es ist desaströs  was die Politik da liefert und es ist unverantwortlich, wie „Leitmedien“ (ARD, ZDF – um nur einige zu nennen) ihrer Verantwortung für eine unabhängige Berichterstattung nicht nachkommen. Ich distanziere mich ausdrücklich von denjenigen, die die Medien als Lügenpresse bezeichnen, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass durch eine oft einseitige Berichterstattung und durch mediale Pauschalurteile tendenziös berichtet wird. Diese oft anzutreffende tendenziöse Berichterstattung, die einseitig dem Narrativ der Regierungspolitik folgt, halte ich für mehr als bedenklich.

 

Nora – 31. Oktober 2023

Noras 2. Brief

Pinnow,

Liebe Hannelore,

mein Leben hält mich gerade ganz schön auf Trab, deshalb antworte ich erst heute – am Dienstag, der ein trüber Regentag ist, aber endlich voller Zeit. Sie rennt nach wie vor immer ein Stück vor mir her. Obwohl, ganz so stimmt das nicht, seit den Sommerferien gelingt es mir immer öfter, sie einzufangen und freundlich an die Hand zu nehmen. Ich habe ein wenig ausgemüllt, in meinem Kopf und vor allem auch meinem Kalender und eine neue Struktur gefunden. Initialzündung dafür war das Buch „Zeit als Lebenskunst“ von Olaf Georg Klein. Klein räumt darin unter anderem mit der Vorstellung (dem Hauptirrtum) auf, dass wir tatsächlich Zeit meinen würden, wenn wir von Zeit sprechen. Er sagt, wir seien mit Zeitmodellen unterwegs. Wir hier in der „modernen“ Welt, schreibt Klein, leben mit der Idee von Zeit als einer geraden in die Zukunft gerichteten Linie. Ich habe sofort die Tartanbahn vor Augen, auf der ich früher etliche Trainingseinheiten verbracht habe, natürlich immer einem imaginären Ziel – meine Zeit zu verbessern, also die vom letzten Training irgendwie einzuholen – hinterherjagend.
Vor meinem Fenster läuft ein ganz anderes Zeitmodell. Die Linde färbt sich langsam braun, die Ahornblätter liegen rot und gelb auf der Wiese, unser riesiger Walnussbaum entledigt sich seiner schweren Früchte – wir haben bestimmt schon zwanzig Kilogram aufgesammelt und es liegen noch mal so viele im nassen Gras. Durch unsere Birken können wir bereits hindurchsschauen. In ein paar Wochen wird unser Garten kahl und trist aussehen, wie tot. Aber dann, im nächsten Frühjahr …Es ist wie mit der Raupe und dem Schmetterling. Eigentlich gefällt mir dieses Zyklusmodell viel besser – vom Werden und Vergehen und Wiederkommen. Weiß der Schmetterling von der Raupe? Glaubst du eigentlich an Wiedergeburt?
Hannelore, was ist das? Kaum schreibe ich dir, gehen meine Gedanken mit mir durch. Da wollte ich doch gar nicht hin.
Sondern dir eigentlich nur meinen kleinen, ich nenne es mal, „Essay“ zu der Frage „Warum hast du nicht mitgemacht“ schicken.
Wie gesagt, ich finde die Fragestellung nicht ganz glücklich, deshalb habe ich meine abgewandelt und würde von den Menschen gerne wissen,  warum sie sich in der Coronazeit wie verhalten haben und wie sie diese Zeit und ihren Umgang mit dieser Zeit und den daraus resultierenden Gegebenheiten aus heutiger Sicht betrachten. Es wäre toll, wenn du dich und wenn sich deine Freunde wieder beteiligen würden. Vielleicht hat ja auch Michael Lust…
Ich grüße dich ganz herzlich,
Nora.

Warum habe ich nicht mitgemacht?

Wenn ich es versuche mit Humor zu betrachten, erzähle ich gerne, dass die ganze Corona-Zeit nur meinetwegen über uns gekommen ist. Ich bin ein Kind der DDR, 27 Jahre nach Kriegsende geboren und trotzdem war der Krieg in meiner Kindheit noch absolut präsent. Ich war schon in der 1. Klasse, also mit sieben Jahren, aktiv in der AG „Junge Antifaschisten“. Damals war ich traurig, habe bedauert, dass ich nicht in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt habe. Meine Zeit erschien mir so langweilig, ohne große Herausforderung. Ich wollte doch Antifaschistin sein, wie meine Vorbilder Käthe Niederkircher, Lilo Herrmann, Fiete Schulze, natürlich Ernst Thälmann und und und… Ich war überzeugt, ich wäre eine von ihnen gewesen, unbeugsam. Erst langsam dämmerte mir, dass das gar nicht so zwangsläufig anzunehmen war, vielleicht hätte ich mich geduckt, hätte geschwiegen, wäre Mitläuferin geworden oder sogar Täterin – wer weiß das schon.

Die Corona-Zeit hat mir gezeigt, dass ich mit meiner kindlichen Überzeugung mit Sicherheit Antifaschistin gewesen zu sein gar nicht so falsch lag. Ich war widerständig.

Warum? Wenn ich es – im Sinne von Daniele Ganser – ganz knapp runterbreche, habe ich wohl einfach eine andere Angst gehabt, als alle diejenigen, die, wie immer auch, mitgemacht haben. Ich hatte Angst, meine Freiheit zu verlieren, meine Autonomie und irgendwie – durch die Spritze – auch meine Gesundheit.
Die Angst meines Mannes war eher eine existentielle – er sieht sich als Versorger der Familie, diesen Status wollte er nicht gefährden, dafür hätte er sich  – er ist im Gesundheitswesen tätig – fast impfen lassen. Zum Glück bekamen wir genau zum richtigen Zeitpunkt Corona und damit war er sechs Monate lang „geschützt“. Danach war das Thema vom Tisch.

Anfänglich hatte ich Angst vor Corona. Fürchtete in drei Wochen tot sein zu können. Oder schlimmer, eins meiner Kinder. Was tun? Mich aus Angst verkriechen? Nein! Ich wollte, wenn, dann aus dem Leben heraus sterben. Bei uns auf dem Land ging das mit dem Leben ganz gut. Im Prinzip waren wir frei.

Dann erreichten mich erste Botschaften von Menschen, die anders auf das Geschehen schauten. Es gab erste Daten und es gab Mediziner wie Wodarg, Schiffmann und Bhakdi. Warum wurden sie nicht gehört? Sogar verunglimpft? Das machte mich skeptisch. Ich begann Corona und das Drumherum zu studieren.

Ich stolperte über Begriffe wie „symptomlos erkrankt“.
Es dauerte lange, bis im Umfeld meines Umfeldes überhaupt jemand erkrankte. Diejenigen die es traf, posteten fleißig in den sozialen Netzwerken – das musste ja eine schlimme Krankheit sein.
Der Vater einer Bekannten starb an Corona – ein Arzt, 83 Jahre noch immer als Arzt tätig, behandelte er ungeschützt – in unserem hochgerühmten Gesundheitssystem fehlte es einfach an Schutzkleidung.
Ich lernte einen Intensivpfleger kennen, er war Springer, in mehr als einem Dutzend Berliner Krankenhäusern unterwegs. Er zeichnete ein anderes Bild als das, das uns in den Medien verkauft wurde.

Ich fragte mich, warum uns die Regierung keine gesunden Lebensmittel und Vitamin D und C verordnete? Warum sie uns stattdessen einsperrte und uns damit vorbeugende Maßnahmen wie frische Luft und Bewegung nahm? Wie konnte man Sport verbieten? Wie Kultur, wie Beieinandersein? also soziale Medizin? Wie konnte man uns zwingen, uns selbst die Luft zum Atmen zu nehmen – mittels eines Wischs vor dem Mund? Da rebellierte mein gesunder Menschenverstand? Für mich war die Maske von Anfang an ein Maulkorb.

Ich hörte Ken Jebsen.
Ich ging raus, veranstaltete mit Freunden Demos, fand Gleichgesinnte, durchweg schlaue Menschen mit Fachkenntnissen. Wir sind bis heute befreundet – ein positiver Coronaeffekt. Der neue Freundeskreis wächst immer weiter. Dieser Kreis war mein Rückhalt, ist es bis heute.

Mir gefällt die Bezeichnung „moralischer Kompass“. Dem bin ich gefolgt. Ich habe mich belesen, geforscht, recherchiert, ausgetauscht, ich war bereit auch an meiner Sicht zu zweifeln, habe anfänglich sogar gehofft, falsch zu liegen, aber alles was ich mir an (Halb)wissen aneignete, ließ mich immer wieder zu dem Schluss kommen, dass hier etwas gehörig schief läuft. Dass es nicht um unsere Gesundheit geht.

Die Impfung verstand ich viel mehr als Angriff. Und als Einnahmequelle für die Pharmallobby. Normalerweise brauchen Impfungen an die zehn Jahre für ihre Entwicklung. Für das Corona-Therapeutikum wurden alle Sicherheitsstufen über den Haufen geworfen. Es wurde vom ersten Coronatag an als einzige Lösung gehypt.
Plötzlich gab es richtige und falsche Wissenschaftler. Wissenschaftler, die mit – erschütternden Mitteln – mundtot gemacht wurden.

Das Mittel der Wahl für alles – ANGST.
Meine war einfach eine andere, als die vieler anderer Menschen.

Nora Mittelstädt

Wer war ich, als ich 16 war?

Mitten in der Nacht

schoss mir diese Frage durch den Kopf. Natürlich kam sie mir nicht einfach so in den Sinn. Nur noch ein paar Stunden, dann würde meine Tochter 16 werden. 16. Wie erwachsen das klang. Mein kleines großes Mädchen. Das ihren so ganz eigenen Weg geht. Mit einer beachtlichen Reife, aber auch Ängsten und Sorgen, Sehnsüchten … Wir sind viel im Gespräch. Dennoch weiß ich vieles von dem, was ihr durch den Kopf geht, vermutlich nicht.

Wie war das bei mir?

Wer war ich damals? Was ging mir durch den Kopf? Wo stand ich?
Das Bild ist verschwommen. Die Zeitspanne zwischen 14 und 18 irgendwie eins. Ich sehe mich, weiß, wie ich aussah, aber wer war ich? War das ich? Wie viel ich von damals ist heute noch in mir? Natürlich sehe ich, wenn ich die Fotos von damals betrachte, eine große Ähnlichkeit, aber würde ich sie auch sehen, wenn ich nicht wüsste, dass ich das bin? Beziehungsweise gewesen bin. Wer und wie war ich damals?

Hockey – mein EIN und ALLES

Ich suche nach Erinnerungen. Sie sind nicht leicht zu finden. Aber eines weiß ich sofort und ganz sicher: Mein Anker, mein Halt, mein Leben damals war HOCKEY. Am liebsten hätte ich auf dem Hockeyplatz gewohnt. Auf dem Hockeyplatz gab es einen kleinen Clubraum, ich stellte mir vor, er wäre meine Wohnung, mein Zimmer, und ich könnte von früh bis spät Hockey spielen. Damals war mein Traum, die beste Spielerin der DDR zu werden. Selbstverständlich wollte ich auch zu den Olympischen Spielen, doch das war illusorisch, Hockey gehörte in der DDR nicht zu den olympischen Sportarten und wurde nicht gefördert.

Jetzt fällt es mir wieder ein, die Erinnerung kommt, die Schublade geht auf – als ich 16 war, erhielt ich erstmals eine Einladung zu einem Lehrgang der Juniorinnennationalmannschaft, der U19. Der Lehrgang war in Güstrow und das Ausscheidungsrennen für das Turnier der Freundschaft zwei Monate später in der Sowjetunion. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Muskelkater, die Treppen zur Mensa waren eine Marter. Dennoch war ich glücklich. Jeden Tag durfte ich Hockey spielen, mit den besten des Landes, die schnell meine Freunde wurden.

Mit meiner Heim-Mannschaft, den Damen von Rotation Prenzlauer Berg
1988 – 16-jährig spiele ich mit der Berlin-Auswahl gegen die indische Hockey-Nationalmannschaft

Zwischenspiel Schule

Ich sehe mich auf der Rückfahrt im Zug, beseelt und zugleich tieftraurig – noch sechs lange Wochen waren es bis zum nächsten Trainingslager. Plötzlich erinnere ich mich ganz genau, ich saß in Fahrtrichtung am Fenster – allein im Viererabteil, widerwillig kramte ich mein Geschichtsbuch und meine Mitschriften aus der Tasche. Morgen hatte ich meine schriftliche Abschlussprüfung. Meinen Eltern hatte ich versprechen müssen, mich trotz des vielen Trainings ordentlich auf die Prüfung vorzubereiten. Am Abend wollte mich mein Vater abfragen. In Güstrow hatte ich nicht ein einziges Mal ins Buch geschaut. Nun blätterte ich durch die Seiten zur Französischen Revolution, las und las und dachte dabei nur daran, dass ich, als Jüngste der Truppe, als zweite Nachrückerin für das Turnier der Freundschaft nominiert worden war.

Am Abend im Wohnzimmer, mein Vater simulierte die Prüfung, wusste ich nichts. Mein Vater war entsetzt. Und ich auch. Ich war Klassenprimus und sah mich schon dem Gespött der ganzen Schule ausgesetzt. Was konnte ich jetzt noch tun? Mein Vater schickte mich mit meinem Buch ins Bett, dort sollte ich mir noch einmal alles durchlesen und dann das Buch unters Kopfkissen tun.

Am Morgen zog ich los, darauf gefasst, das erste Mal in meinem Leben total zu versagen. In meinen Gedanken stehe ich wieder im Prüfungsraum. Er war im Erdgeschoss im Wohnhaus neben der Schule. Warum hier? Hatte die Schule den Raum extra angemietet? Fünf Menschen saßen in der Prüfungskommission. Ich schaue in das Gesicht von Frau Gehm, sie hatte ähnlich lilane Haare wie Margot Honecker, neben ihr saß Frau Kaczmarek, die zweite Geschichtslehrin der Schule, und daneben unsere Pionierleiterin Frau Mann. Frau Kannegießer, unsere Direktorin, war dabei und noch ein Mann. Die fünf konnten fragen, was sie wollten, ich wusste alles. Meine Prüfung war ein einziges Freudenfest. Selbst die letzte Fangfrage, mit der Frau Kaczmarek mich nochmal aufs Glatteis führen wollte, konnte mich nicht erschüttern.
Ich glaube, den ganzen Weg nach Hause hüpfte ich. Ich hatte ein 1a-Abgangszeugnis. Und in sechs Wochen endlich mein nächstes Trainingslager.

Dirty Dancing in der Ostsee

Dieses Mal ging es mit der U16-DDR-Auswahl nach Rerik. Mein Vater hat einen Brief aufbewahrt, den ich meinen Großeltern damals aus Rerik schrieb.… „Ich bin seit gestern wieder in einem anderen Trainingslager. Bisher hatten wir einmal Training, welches aber äußerst leicht war. Besser hier ist, dass wir einmal an der Ostsee sind (waren noch nicht baden) und zweitens, dass hier auch Jungs sind, mit denen wir vorher schon im Trainingslager waren. Das Klima zwischen uns ist einwandfrei, das Wetter weniger. …“

 

Der Junge, der mich damals besonders begeisterte, hieß Gerhard und kam aus Erfurt. Aber auch Falk aus Köthen fand ich ganz dufte und Thomas aus Potsdam. Tatsächlich verliebt aber war ich, wie noch einige andere Auswahlspielerinnen auch, in unseren Nationaltrainer Frank Müller. Ich kann gar nicht mehr sagen, ob er hockeytechnisch ein guter Trainer war, aber menschlich war er einer dieser Trainer, immer auf Augenhöhe, immer zu einem Gespräch bereit. Natürlich kokettierte er auch mit uns Teenie-Verliebten. Dirty Dancing mit Patrick Swayze und Jennifer Grey in den Hauptrollen war damals unser Film. Natürlich rannten wir auch in Rerik ins Kino und danach in die Ostsee; Frank Müller gab den Patrick, und die leichtesten von uns – ich, juhu, gehörte dazu – sprangen ihm, unter dem Vorwand, die Dirty-Dancing-Hebefigur nachstellen zu wollen, in die Arme.

Nebenbei brachte mir Frank Müller in „Einzelstunde“ noch das Kraulen bei. In der Ostsee bei Wellengang. Ich weiß nicht mehr, wie viel Salzwasser ich schluckte, aber mein Können langte, um ein paar Monate später die für die Aufnahme an der DHFK in Leipzig notwendigen 25 Meter, mehr schlecht als recht zu bewältigen.

Danken konnte ich Frank Müller dafür nicht mehr. Plötzlich war er weg. Die Mauer war – für mich absolut überraschend – gefallen und mein Lieblingstrainer in die Hockeyhochburg nach Hamburg gezogen.

Was blieb,

und offenbar noch immer in mir schlummert, sind die Erinnerungen und meine Liebe zum Hockey.

Wandere ich noch, oder pilgere ich schon?

Was so ein Rucksack ausmachen kann.

Wie viele Kilometer habe ich in den vergangenen Jahren schon in meinen Wanderschuhen zurückgelegt? Insgesamt sicher mehrere Hunderte. Im letzten Jahr habe ich den Oberuckersee gleich fünf Mal in ihnen umrundet – das allein macht schon 125 Kilometer. Allerdings 125 Kilometer mit leichtem Gepäck. Nun jedoch habe ich mich aufgemacht, um zu pilgern oder einfach nur mehrere Tage zu wandern. Jedenfalls laufe ich auf dem Jakobsweg – und muss mir das erste Blasenpflaster bereits um die Zehe wickeln, noch ehe ich meinen Startpunkt Frankfurt/Oder verlassen habe.
Ursprünglich hatte ich geplant meine Wanderreise mit 11,2 Kilometern eher entspannt anzugehen, um dann jeden Tag ein paar weitere Kilometer draufzupacken, doch nichts da, noch bevor ich mein erstes Tagesziel – Lebus – erreicht habe, weiß ich, ich werde wohl eher von Tag zu Tag ein wenig abspecken.
Wer läuft auch bei 31 Grad und knallender Sonne los, die ersten zwei Kilometer noch dazu an Frankfurts unbeschatteter Hauptstraße entlang? Und dann weiter auf dem Deich – rechts kein Baum, links kein Baum, jedenfalls nicht direkt am Deichweg. Um Temperaturen habe ich mich im Vorfeld überhaupt nicht geschert. Wichtig war mir nur, nicht im Regen laufen zu müssen. Dabei weiß ich doch – eigentlich – dass mir Hitze viel mehr zu schaffen machen kann. In den heißen Wochen vor Ferienbeginn ist mir mein Kreislauf gleich zwei Mal – im wahrsten Sinne des Wortes – durchgedreht. Schwindel!
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt (erst) wieder ein? Kein Mensch weit und breit, und die Sonne brennt. Meine Haut, mein Körper auch. Ich brauche Wasser. Das aus meiner Flasche reicht nicht, um mich zu erfrischen. Ich muss baden, wenigstens die Beine. Und die Arme und das Gesicht und den Nacken. Eigentlich alles. Hundert Wiesenmeter entfernt glitzert zwischen riesigen, Schatten spendenden Bäumen die Oder. Dort will ich hin, dort mache ich mit plätschernden Beinen im Wasser Pause.

Ein Kirchturm – meine Herausforderung

Nichts lockt mich zurück in die Sonne. Aber ich kann ja nicht hier sitzen bleiben. Ich versuche es mit einer Abkürzung. Doch hüfthohes Schneidegras bremst mich. Außerdem krabbelt es wie wild. Sind das Zecken? Nichts wie weg hier und zurück auf den vorgeschriebenen Pfad.
Fünfhundert Meter kostet mich meine misslungene Abkürzung. Fünfhundert zusätzliche Meter, und der Rucksack wird auch nicht leichter. Dafür endet der Deich. Was für ein Segen. Ein dicht bewachsenes Wegelchen schlängelt sich – Schatten! Irgendwann mündet es in einer schier endlos erscheinenden Wiese. Über der Wiese haben sich Wolken vor die Sonne geschoben. In der Ferne taucht Lebus auf. Ich sehe den Kirchturm und frohlocke, gleichzeitig jedoch habe ich ziemlichen Bammel. Der Kirchturm von Lebus – er ist MEINE Herausforderung auf meinem Pilgerweg.
Auf meinem Pilgerweg? Bin ich denn überhaupt eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Tatsächlich bin losgezogen, um zu wandern. Mich mal um nichts anderes zu kümmern, als von A nach B zu kommen und dabei mit mir allein zu sein, in Betten zu schlafen, in denen ich noch nie geschlafen habe und Menschen zu begegnen, die ich noch nicht kenne. Ich will mich einlassen. Das allerdings so preiswert wie möglich.
Im Kirchtum von Lebus findet man gegen eine Spende Herberge.
Eine Nacht im Kirchtum – wie romantisch, dachte ich, als ich zum ersten Mal davon las. Inzwischen ist daraus eine ziemliche Beklemmung geworden. Die Vorstellung, hoch oben im Kirchturm zu schlafen, in einem Verschlag mit zwei ausgeschriebenen Bettstellen, ängstigt mich. Was, wenn ein mir unbekannter Mann die zweite Bettstelle belegen würde? Was, wenn die zweite Bettstelle frei bliebe und ich ganz alleine wäre, im dunklen Turm mit all seinen unbekannten Geräuschen und dem dort sicher wohnenden Getier? Wäre das nicht noch viel gruseliger – mutterseelenallein in einer Holzkammer unter dem Turmdach? Bis zuletzt hatte ich geschwankt, ob ich mich dieser Herausforderung stellen sollte. Augen zu und durch! Raus aus der Fantasie, rein in die Realität.
Die gruselige, dunkle Kammer hoch oben, direkt unter der Glocke entpuppt sich als ebenerdiges, lichtdurchflutetes, spartanisches, aber gemütlich eingerichtetes Zimmerchen, gut isoliert nach draußen, oben und unten sowie – für mich enorm wichtig –abschließbar. Dass Küche, Dusche und Toilette drei Kirchecken weiter und einmal quer durch den Kirchgarten liegen, stört mich nicht. Jedenfalls so lange nicht, bis der Regen, der mir zum Abendbrot unterm Schleppdach zunächst eine zauberhafte Melodie tröpfelt, so heftig wird, dass ich fürchte, nicht mehr sicher und schon gar nicht trocken in mein Kämmerlein zu kommen.
Wie machen das die Störche, die hier, wie bei uns zu Hause, gleich neben mir wohnen? Ihr Nest muss schwimmen, ihre Federn triefen. Wurde je ein Storchennest vom Blitz getroffen?
Ich liege im Trockenen und lese. Erst jetzt bekomme ich mit, dass über mir alle Viertelstunde die Glocke schlägt, zur vollen Stunde will das Geglocke gar nicht mehr aufhören. Wie schnell gewöhnt sich ein Gehirn an diese permanente Störung? Werde ich schlafen können?
Ich kann: Von zehn bis sieben Uhr schweigt die Glocke. Dafür tobt das Unwetter.

 

Da ragt er heraus, der Kirchturm von Lebus – meine Herausforderung

Wie mag der alte Fontane gewandert sein ?

Am Morgen dagegen strahlt die Sonne – sofort wieder mit voller Wucht. 31 Grad den ganzen Tag. Das ist nicht mein Wetter.
Was sagen die Störche dazu? Haben sie ein Lieblingswetter? Denken sie überhaupt über so etwas nach? Oder nehmen sie einfach nur hin?
Der Weg ist grün. Nur Urwald um mich herum. Was für ein Glück. Hier lässt es sich aushalten. Ich verstehe nicht, wie man ganze Wälder zugunsten von Windrädern und Solarparks abholzen kann. Noch dazu, wenn parallel über einen unaufhaltsamen Temperaturanstieg geklagt wird? Unter dem dichten Blätterdach ist es gerade mindestens fünf Grad kühler als ein paar Kilometer weiter auf dem Deich. Herrlich.
Wenn nur dieser schwere Rucksack nicht wäre. Seit Jahren schon stelle ich mir vor, im Alter, also wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind, loszuziehen und Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neu zu schreiben. Aber mit diesem schweren Rucksack? Wie hat der alte Fontane das gemacht? Bestimmt nicht per pedes mit seinem halben Hausstand auf dem Rücken.
Links neben mir erstreckt sich das Mühlenfließ. Eine Aneinanderreihung kleiner Teiche, die einer den anderen speisen. Bäume wurzeln im Wasser, Entenflott, so weit das Auge reicht. Flirrende Sonnenstrahlen. Ich bleibe stehen, muss ein Foto machen. Plötzlich sind sie da: Mücken. Eine ganze Armada stürzt sich auf mich. Ich schlage auf meine Beine, meine Arme, meinen Kopf und flüchte. Sofort lassen die Mücken von mir ab. Zum Glück.
Vor dreißig Jahren haben mich Mücken mal durch einen ganzen Wald gejagt. Die kleinen Plagegeister hatten meine Freundin Dana und mich beim Blaubeersammeln aufgespürt, attackiert und gleich noch alle Verbündeten der näheren und weiteren Umgebung aufgestachelt uns ein für alle Mal aus ihrem Wald zu vertreiben. Eine Viertelstunde rannten wir, dann waren wir aus dem Wald und die Plagegeister los.

Der Urwald des Mühlenfließ

Wölfe, Hunde, Mirabellen

Was war das? Ein Rascheln. Ich muss an vorgestern Abend denken, an unsere Hunderunde in der Dämmerung, an meine panische Lilo, die den ganzen Weg über Wölfe witterte. Schauen mich da zwei Augen an? Vier? Gibt es hier überhaupt Wölfe? Na klar, Polen ist nicht weit, von dort sind sie doch eingewandert. Was, wenn gerade jetzt hier ein Isegrim meinen Weg kreuzt? Eigentlich machen die ja nichts, aber wenn ausgerechnet heute doch? Meine Fantasie … Ich checke die Umgebung, suche Bäume, auf die ich klettern könnte. Zuerst müsste ich natürlich den Rucksack abwerfen und dann … Was, wenn mir das Handy beim Sprung auf den Baum aus der Hosentasche fällt? Dann sitze ich halbhoch oben und traue mich nicht runter. Meine Beine werden immer schneller. Der Rucksack immer leichter. Plötzlich liegen Mirabellen vor mir auf dem Waldboden. Die Sammlerin in mir erwacht. Ich lasse es mir schmecken. Kein Wolf kann mich mehr schrecken.
Was der Weg alles bereithält: Brombeeren, Pflaumen, sogar die ersten Augustäpfel. Und einen See. Ich schwitze wie ein Elch und tauche ein wie eine Forelle.
Nicht weit entfernt bellt ein Hund die polnischen Radfahrer an, die eine Stunde lang den Weg gesucht haben, auf dem ich gleich an dem Hund vorbei muss. Shirley MacLaines „Jakobsweg“ kommt mir in den Sinn, oder war es der von Paolo Coelho? Darin beschreibt sie/er die Begegnung mit den wilden Hunden von – ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß. Als ich das Buch las, wusste ich, diesen Weg werde ich nicht gehen. Mittlerweile würde ich mich wohl wagen. Unser Trixihund hat mich therapiert. Natürlich bellt der Schnäuz, als ich den Weg an seinem Gartenzaun passiere. Ich summe mir ein Lied.
Es ist gerade mal drei Uhr, als ich die Pension an der Orgelwerkstatt erreiche. Ich bewohne sie ganz alleine. Die Wirtin ist momentan selbst auf dem Jakobsweg unterwegs und gerade bei den Meistersingern in Nürnberg. Ihr Mann, der Orgelbauer, verköstigt mich mit plückreifen Tomaten aus seinem Garten, Zwiebeln und Basilikum. Ich schnappe mir ein Buch und genieße meine Zweisamkeit mit mir.

Allein mit mir

Bin ich ein Scharlatan?

Am Morgen drückt mir der Orgelbauer meinen ersten Pilgerstempel in meinen Pilgerpass. Bin ich nun eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Den Pass hatte ich mir vornehmlich besorgt, um die Pilgerherbergen nutzen zu dürfen. Bin ich ein Scharlatan? Nein! Ich bin eine Pilgerin! Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.

Zum Abschied hat mir Christian, der Orgelbauer, einen Pilgersegen mit auf dem Weg gegeben. Seine Worte haben mich tief ergriffen. Heute werde ich noch zehn Kilometer pilgern, dann bin ich wieder zu Hause. Auf dem Weg beschäftigt mich Christians Vergleich des Pilgerns mit dem Begriff des Ablasshandels. Geht es, fragte er, nicht genau darum, abzulassen, von allem, was einen beschwert, vor allem auch von den vielen Gedanken, und einfach nur den Weg zu gehen?
Ich gehe ihn ziemlich zackig, merke ich plötzlich. Den Rucksack spüre ich kaum noch.
Kein Zweifel, ich pilgere, bin auf dem Weg. Ist nicht das ganze Leben eine Pilgerreise?