Was wäre wenn …

Was wäre, wenn …
… Friedrich Wilhelm IV. die ihm am 30. März 1849 durch
Volksvertreter angetragene Kaiserwürde angenommen hätte?
… sich KPD und SPD 1933 einig gewesen wären?
… Adolf Hitler ein erfolgreicher Maler geworden wäre?
… Stauffenbergs Attentat geglückt wäre?
… eine umfassende Entnazifizierung stattgefunden hätte?
… in den alliierten Besatzungszonen keine neue Währung
eingeführt worden wäre?
… über die Stalin-Note verhandelt worden wäre?
… ein Volksentscheid über die Vereinigung oder fortlaufende
Entzweiung des geteilten Deutschlands entschieden hätte?
… die Mauer nicht gebaut wäre?
… oder die Panzer gerollt wären, um ihn aufzuhalten?
… an der Bornholmer Brücke am 9. November 1989 die Nerven
verloren hätte?
… keine permanente NATO-Osterweiterung stattfinden würde?
Rammstein geräumt würde?
Gestern besuchte ich mit meinen Töchtern die Ausstellung „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Ausstellung ist ein spannender Ansatz, der viel Raum zum Ausmalen gibt.
Meine Tochter beschäftigte vor allem die Frage, ob Anne Frank überlebt hätte, wenn Stauffenbergs Bombe Hitler getötet hätte? Meine Tochter hat eine Facharbeit über Anne Frank geschrieben, ihr Schicksal hat sie sehr bewegt.
Während ich fest davon überzeugt war, dass Anne Frank im Falle eines geglückten Attentats selbstverständlich überlebt hätte, gab meine Tochter zu bedenken, dass sie vielleicht trotzdem Fleckfieber hätte bekommen und daran sterben können. Oder Tuberkulose. Sie hätte anderen fanatischen Antisemiten zum Opfer fallen können oder einfach nur einen Unfall haben. Sehr wahrscheinlich jedoch wäre sie nicht ins KZ depotiert worden .
Oder vielleicht doch? Vielleicht wäre der Krieg mit einer neuen Regierung nach Hitlers Tod beendet worden. Aber auch der Krieg gegen die Juden?
Es sind so viele kleine Entscheidungen, die am Ende große Geschichte ausmachen. Und wir alle, davon bin ich überzeugt, können die Geschichte mitschreiben.
Und darum geht es
JETZT.
Vierzehn Schlüsselmomente der Deutschen Geschichte hat der Historiker Dan Diner für die Ausstellung ausgewählt. Am Ende erwartet den Besucher ein gänzlich leerer Raum – überschrieben mit 2023.
Was wird werden in diesem Schlüsseljahr?
Werden nach dem Leopard auch Kampfjets in die Ukraine entsandt? Und danach Soldaten? Oder kommen fremde Soldaten zu uns? Totalmobilmachung?
Wird sich der Meinungskorridor wieder weiten oder noch enger werden?
Wird eine Aufarbeitung der vergangenen drei Jahre stattfinden? Oder zur alten Normalität (die es m.E. gar nicht gibt) zurückgekehrt?
Was passiert mit unseren Krankenhäusern? Werden die Kapazitäten erweitert? Die Profitgier hinten angestellt, zum Wohle des Menschen?
Wird es überhaupt wieder menschlicher und NATUeRlicher?
Was wäre wenn …
…wir uns einfach entscheiden, friedlich miteinander zu leben. Und anerkennen, dass wir alle zur Menschheitsfamilie gehören, und dass es dieser nicht nicht um höher weiter besser reicher geht, sondern um Liebe und Lebensglück?
Wußtet ihr, dass es eine Weltuntergangsuhr gibt? Auch sie ist in der Ausstellung abgebildet.  2017 stand sie bereits auf 11:57:30.
Angesichts dessen, was seit 2020 passiert ist, frage ich mich, steht sie noch vor 12 Uhr.
Was denkt ihr?

Ohne mich

Es ist der 1. Februar 1916. Mein Opa wird geboren. Mitten im ersten Weltkrieg. Sein Vater, mein Uropa war zu dieser Zeit als Soldat an der Westfront. Erst im Januar 1919, also kurz vor dem dritten Geburtstag meines Opas, kam er wieder nach Hause.
Neunzehneinhalb Jahre später, am 18. November 1938, knapp ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, wurde mein Opa eingezogen. Zweiundzwanzig Jahre war er damals alt. In den fast sechs Jahren des Krieges verschlug es meinen Opa nach Polen, Lothringen, die Kanalküste bei Calais, nach Weißrussland, nach Kronstadt sowie an die Front vor Wolchow.
So verrückt es klingen mag, ausgerechnet in dieser Zeit lernte mein Opa meine Oma kennen. Sie war eines der jungen Mädchen, das zu Hause an der Heimatfront eifrig Socken für die Soldaten in den Schützengräben strickte. Ein Paar von Omas Socken landeten an Opas Füßen.
Diese Geschichte, von der Oma und Opa nicht mehr als diese paar Eckdaten hinterlassen, habe ich in meinem Buch „Winterschmetterlinge“ aufgegriffen und in der Erzählung „Weihnachten vor Kronstadt“ literarisch ausgeschmückt .
Zurückgreifen konnte ich dabei auf einige Details, die mein Opa mir 1996 in einem Brief über seine  Soldatenzeit geschrieben hatte.

„Im ersten Winter des Krieges mit der Sowjetunion lag ich als vorgeschobener Beobachter in einem Schützengraben auf der Mondscheinhöhe vor Kronstadt – verlaust und verdreckt. Unsere Unterkunft war ein niedriger kaum mannshoher Unterstand mit einigen harten Pritschen. Draußen war es am Abend bitterkalt (ca. -40 Grad Celsius), sternenklar und windstill. Drinnen im Unterstand brannten keine Kerzen, sondern nur einige aus Handgranaten gebastelte Ölfunzeln sowie ein aus einer achtundzwanzig Zentimeter Kartusche selbst gebauter Kanonenofen, aus dem es qualmte. Diesen Ofen konnten wir nur nachts benutzen, am Tage hätte uns der Rauch verraten. Ich war Unteroffizier und Truppführer – Offiziere ließen sich vorne im Graben nicht sehen.“

Das klingt doch wie heute. Ich erinnere an Gerhard aus meinem Buch „Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine“, der forderte: „Ich finde, alle, die Politik machen, müssten irgendwie eine Art Frontbewährung machen müssen. Zum Beispiel könnten sie eine Stunde unter Artilleriebeschuss leben. Danach können sie dann sagen: „So jetzt machen wir Politik“. … und liefern Panzer … und wer weiß, was noch.

Auf der sonst so umkämpften Mondscheinhöhe, schrieb mein Opa weiter, fiel in dieser Weihnachtsnacht kein Schuss. Am Neujahrstag aber schon ging es weiter mit dem gegenseitigen Abschlachten.

„Wir haben unter Trommelfeuer gelegen. In den Morgenstunden war Wachablösung. Mein Vorgänger hatte vergessen, den Ofen auszumachen. Dadurch geriet der Beobachtungsposten unter Beschuss, ein Volltreffer war nur noch eine Frage der Zeit. Daher bin ich weggepest so schnell ich konnte. Kurz darauf gab es den Volltreffer“.

Später hatte mein Opa die Ruhr. Sie hat ihm das Leben gerettet. Es drückte ihm dermaßen im Darm, dass er den Unterstand Hals über Kopf verlassen musste, um sich zu erleichtern. Das war seine Rettung. Während er kackte, traf es den Unterstand. Darin waren seine Kameraden – alle tot.

Immer wieder habe ich versucht, mehr von Opa aus dieser Zeit zu erfahren. Es war schwer, Opa sagte über sich, er sei ein Meister im Verdrängen. Ich habe keine Ahnung, ob oder wie ihn diese Erfahrungen seiner jungen Mannesjahre geplagt haben – hat er von den Leichenteilen, die in den Bäumen hingen (und die er mehrfach erwähnt hat) geträumt? Haben ihn die vielen Toten verfolgt? Zumindest die, die er selbst getroffen hat? Hat er welche getroffen?
Wie kann man damit leben? Kann man damit leben?
Opa wurde mehrfach verwundet. Zeit seines Lebens hatte er mit Granatsplittern zu tun, die ihn getroffen hatten und im Körper wanderten.
1945 wurde er wegen einer Hirnverletzung vorzeitig aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen.

Ich habe eine Freundin, deren zwanzigjähriger Sohn panische Angst davor hat, dass der Krieg zu uns kommen könnte, dass er eingezogen werden wird. Ich kann diese Angst verstehen. Ich mache mir ebenfalls Sorgen. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was würde er im Falle eines Krieges tun?

Früher zu den Hochzeiten des Kalten Krieges, ich war noch ein Kind, habe ich mir überlegt, dass ich meinen  Mann und meine Söhne einfach verstecken würde. Später, als ich Mann und Sohn hatte, erkannte ich, dass es so einfach nicht sein würde – allerdings hielt ich es damals noch für ausgeschlossen, dass wir jemals in solch eine Situation geraten könnten.
Ich kann niemanden verstecken, der sich nicht verstecken lassen möchte. Jeder muss seine Entscheidung selbst treffen.

Aber stellt euch einfach mal vor:

„Es ist Krieg und keiner geht hin!“

Das sollte doch funktionieren.

Stellt euch vor, es ist Krieg

29. Januar 2023
Heute vor 101 Jahren wurde Gerhard – einer der fast Hundertjährigen, die ich für mein Buch „Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine“ interviewt habe – auf einem Rittergut auf Rügen geboren.
Gerhards Vater war Russe, galt offiziell allerdings als staatenlos und so war auch Gerhard staatenlos. Damals wollte Gerhard jedoch nichts sehnlicher als Deutscher sein. Genau an dem Tag, an dem seiner Einbürgerung per amtlichen Bescheid stattgegeben wurde, flatterte ihm ein zweiter Brief ins Haus – der Einberufungsbefehl.
Zunächst „wühlte“ Gerhard in Holland und Frankreich an der Küste nach englischen Minen – „Wir mussten mit dem Gewehr das Gelände, abstochern und wenn man auf harte Gegenstände gestoßen ist, hopp, da wussten wir, da könnte eine liegen. Dann hat man die mit der Hand ausgebuddelt und entweder war das ein Stein oder ein Stück Blech oder eben eine Mine. Da ging nicht nur einmal eine hoch. Einmal war ich daneben, als das einem Kameraden passiert ist. Dem hat es beide Beine abgerissen, beide Beine weg, beide Arme weg und der Balg lag in dem Loch. Der lebte noch und versuchte, so wie er war, aus dem Loch zu kriechen. Das war natürlich der halbe Untergang. Nachdem sie ihn rausgefischt hatten, hat es noch ein paar Minuten gedauert, dann ist er gestorben Verblutet. So sind da viele hochgegangen und gestorben.“
Später war Gerhard in Russland, damals Sowjetunion im Einsatz, als Panzerpionier. PANZERPIONIER!!! „Wir Panzerpioniere mussten mit unseren PANZERN los, mussten vor. Wir waren noch keine fünfhundert Meter in der Gefahrenzone, da wurden wir getroffen. Die Panzerketten kaputt lagen wir da und wurden beschossen …“
Gerhard überlebte und wurde zum nächsten Einsatz geschickt – ins Gebiet der heutigen Ukraine, direkt an und auf den Donez. Dort erwischte es ihn als Schlagmann auf einem Boot. „Die erste MG-Garbe, die kam, kriegte ich am Schlag direkt verplättet. Ich bin über Bord, in den Donez rein. Drumherum die ganzen Granaten und was da noch so kam. Das kriegt man in dem Moment gar nicht mehr mit. Ich war knapp über Bord, da gab es einen Knall, ein Volltreffer in meinen Floßsack (Gummiboot). Da sind die anderen einundzwanzig, die drauf waren, in die Luft geflogen. Ich war der einzige, der lebend rauskam.“ Schwer verletzt. Nur weil keine Zeit war, wurde Gerhard sein Bein nicht amputiert.
Allerdings blieb es sein Leben lang eine schmerzhafte Erinnerung sein Leben lang, wurde nie wieder, wie es vor dem Krieg war und bereitete ihm bis zum Lebensende Probleme.
„Zum Glück muss Gerhard das, was jetzt passiert, nicht mehr erleben“, sagt seine Frau.
Gerhard selbst äußerte in unserem Gespräch mit Blick auf DAMALS und HEUTE:
„Ich finde, alle, die Politik machen, müssten irgendwie eine Art Frontbewährung machen müssen. Zum Beispiel könnten die mal eine Stunde unter Artilleriebeschuß leben. Danach können sie dann sagen: „So, jetzt machen wir Politik.“
NIE WIEDER KRIEG! „Als geplagtes Kriegskind“ war das Gerhards Gesinnung. ICH WILL KEINEN KRIEG MEHR. KRIEG IST QUÄLEREI! Ich habe sie in allen Formen genossen. Im Feindesland und auch im eigenen Land. NEIN!!!“
Hallo? Hört ihr zu? Hört auf Gerhard! Und Millionen andere, die damals dabei waren. Und die, die heute noch dabei sind. Dabei sein müssen.
Müssen Sie?
Stellt euch vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Was würdest du tun, wenn dir jemand sagt, jetzt ist Krieg und du wirst Soldat?

Corona ist nicht die Ursache, Corona ist nur der Anlass

August 2021

Seit zweieinhalb Wochen versucht Charlotte zu sterben. Sie hat sich für diesen Weg entschieden, ganz bewusst. Seit zweieinhalb Wochen fastet Charlotte. Um zu sterben und mit dem Tod zu gesunden.

„Ich glaube, der Frieden in mir beginnt mit dem Tod.“

Charlotte will nicht ihr Leben, aber ihr Leiden beenden. Ihr Leiden, dass beinahe so alt ist, wie sie selbst. 73 Jahre. Nur wenige Monate war Charlotte alt, als erst ihr Vater, dann ihre Mutter starben. Charlotte kam in ein Kinderheim am Rande ihrer Heimatstadt. Später in ein anderes, zweihundert Kilometer entfernt auf dem Land. Ein Jahr lang lebte sie bei einer Pflegefamilie, dann wieder in verschiedenen Heimen. Mit 19 gebar sie eine Tochter. Charlotte war noch nicht volljährig. Sie versteckte sich und ihr Kind, wurde (verraten von ihrer Schwester) aufgespürt und ihre Tochter zur Adoption freigegeben.

 

Am 30. April 2021 sagte Deutschlands bekanntester Philosoph der Gegenwart Richard David Precht in der Sendung Volle Kanne im ZDF:

„Aus meiner eigenen Erfahrung, ich war ja auch mal Kind, würde ich sagen, Kinder stecken solche Dinge (Anm. d. Red.: wie eine Pandemie) leichter weg. Das glaube ich auf jeden Fall.“.

 

Bisher habe ich Richard David Precht sehr geschätzt. Sein Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ habe ich förmlich verschlungen. Nun bin ich geschockt und empört. Wie kann dieser Mann, mit dieser, seiner Reichweite solch einen Mist von sich geben? Bloß weil er seine Kindheit, die, wie er in seinem Buch „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ nicht gerade als Sehnsuchtszeit beschreibt, scheinbar ganz gut verkraftet hat. Oder zumindest weggesteckt und einiges vielleicht verdrängt hat.

Ich muss an Charlotte denken, die nicht mehr kann, die nicht mehr will, die mit dem Tod hofft, endlich ihrer traumatischen Kindheit entfliehen zu können. Einer Kindheit, die ihr gesamtes Leben überschattet und die sie mit Corona wieder eingeholt hat.

„Nichts kann man verdrängen, sogar die Kindheit kann man nicht verdrängen, weil es immer noch eine offene Wunde ist bei allen, die darunter gelitten haben.“

Fünfzig Jahre lang, seit ihrer Volljährigkeit hatte sich Charlotte in ihrem Leben eingerichtet. Irgendwie. Es gab Freuden, es gab Freunde und das allerallerwichtigste – sie war frei. Frei und selbstbestimmt.

„Freiheit kann man riechen, schmecken und fühlen. Die Freiheit ist das schönste Geschenk für mich. Freiheit kann man lieben, wie man ein Kind liebt, ein Tier oder einen Menschen, einen Freund, so kann man die Freiheit lieben. So liebe ich sie.“

Im Frühjahr 2020 wurde Charlottes Freiheit wieder massiv eingeschränkt.

Charlotte ist schwer krank. Seit Jahren leidet sie an COPD, einer Lungenerkrankung im Endstadium. Ihr Leben hängt am Schlauch einer Sauerstoffflasche, die sie in einem Trolley hinter sich her zieht.

Charlotte gehört, wie es neudeutsch heißt, zur vulnerablen Gruppe, zur Hochrisikogruppe. Sie muss beschützt werden. Aber will sie das?

Zu keinem Zeitpunkt hatte Charlotte Angst davor, an SARS Cov2 zu erkranken. „Wenn es mich trifft“, sagte sie, als (die Panik um) Corona Deutschland erreichte, „dann trifft es mich.“ Wichtig war ihr einzig und allein, „die letzten Monate frei und mit Menschen, die ich liebe zu verbringen“.

Diesen Wunsch torpedierte Corona (beziehungsweise die Maßnahmen, die im Namen von Corona ergriffen wurden) massiv.

Charlotte ist eines von hunderttausenden Kindern, die in den 50er und 60er Jahren traumatische Erfahrungen in deutschen Kinderheimen gemacht haben. Die meisten dieser Kinder, sagt ein Sozialpädagoge, der über die Jahre zu Charlottes Freund geworden ist (und anonym bleiben möchte) haben einen „Heimschaden, sie haben große Vertrauensprobleme und können Enge schwer ertragen“.

Heimschaden! Werden unsere Kinder, denen von Fachleuten inzwischen der Terminus „Generation Maske“ übergestülpt worden ist, einen Coronaschaden davon tragen?

Erst gestern hat mir meine zwölfjährige Patentochter, die gerade ein paar Tage bei uns verbringt, erzählt, wie beschissen es einigen ihrer Freunde geht. Von zwei Freundinnen weiß sie sogar, dass sie sich ritzen. Ihr Dasein, sagt meine Patentochter, ist so tot, dass sie sich Schmerzen zufügen, um zu spüren, dass sie noch leben.

Selbst mein eigenes Kind, von dem wir denken, dass wir es bisher ziemlich optimal durch diese Zeit gebracht haben, sagt: „Irgendwie war ich vor Corona glücklicher“.

Ist es Zufall, dass sich aus meinem Bekanntenkreis binnen eines Jahres drei Menschen das Leben genommen haben? Bisher kannte ich in 47 Jahren niemanden in meinem näheren Umfeld, der sein Leben selbst beendet hat.

„Corona ist nicht die Ursache, Corona war nur der Auslöser“, erklärt mir meine ehemalige Nachbarin Yvonne, deren Sohn sich im März erhängt hat. Schon seit Jugendtagen war ihr Floris depressiv. Mit 27 Jahren nun beendete er im (wievielten?) Lockdown sein Leiden.

Ein Jahr zuvor war auch Charlotte schon einmal so weit. Sie wollte sterben. Allerdings ohne selbst Hand anzulegen. Sie hoffte auf Hilfe von außen. Dass diese ausblieb, erschütterte sie. Sie konnte nicht verstehen, dass es unter diesen Umständen niemanden gab, der aktive Sterbehilfe leisten wollte.

Charlottes Leben bestand zu diesem Zeitpunkt nur noch aus Panikattaken und Albträumen. Ihr ganzer Lebensmut, der sie bis dahin durch all die Unbilden ihres Lebens getragen hatte, war verschwunden. Das Trauma ihrer Kindheit hatte sie mit voller Wucht eingeholt.

„Heute Nacht habe ich wieder Albträume gehabt. Ich habe geträumt, dass ich eingesperrt bin. Ich bin aufgewacht und habe „Hilfe, Hilfe“ gerufen. Dann habe ich mich wieder schlafen gelegt, weil ich gemerkt habe, dass ich doch frei bin. Ach, wie habe ich Angst davor, nicht mehr frei zu sein.“

Bis zum Sommer 2019 lebte Charlotte allein und selbstbestimmt in einer kleinen freundlichen Wohnung mit Balkon. Diese befand sich im vierten Stock eines Miethauses ohne Fahrstuhl. Mit der Sommerhitze kam Charlotte an den Punkt, an dem sie die vier Treppen nicht mehr bewältigen konnte.

„Ein Heim“, sagt ihr Freund, der Sozialtherapeut, „war für Charlotte aufgrund ihrer traumatischen Kindheitserfahrungen nie eine Option.“

Mit einem Mal jedoch gab es keine andere Möglichkeit mehr. Charlotte zog um in ein kleines schönes Heim mit Garten. Vier, fünf Monate lang fühlte sie sich dort wohl. Dann kam Corona. Und Deutschland versank im ersten Lockdown. Charlottes Heim wurde dicht gemacht, die Bewohner durften nicht raus und Besucher nicht rein. Charlottes Freunde versuchten sie über den Gartenzaun mit Obst (die Ernährungslage im Heim war schlecht und Obst eines von Charlottes wenigen Freuden) und Gesprächen aufzumuntern. Nach wenigen Wochen war es auch damit vorbei. Das Heimpersonal errichtete eine Barriere aus Gartenmöbeln und Absperrbändern. Über diese hinweg war eine Kommunikation – Charlotte ist schwerhörig – nicht mehr möglich. Per WhatsApp bat sie ihre Freunde darum, doch einen Anwalt zu finden, der aktive Sterbehilfe für sie erstreiten könnte. „Ihr ging es wirklich nur noch ums Sterben“, erinnert sich Charlottes Freund.

Ihre Freunde fanden eine kleine Alters-WG, in die Charlotte bereit war einzuziehen – unter einer Bedingung: Die Betreiber mussten Charlotte versprechen, sie auf keinen Fall einzusperren.

Mit dieser Zusicherung schöpfte Charlotte neuen Lebensmut, Sterbehilfe war fortan kein Thema mehr. Ihr Umzug fiel in das Ende des ersten Lockdowns. Charlotte konnte im neuen Zuhause ein- und ausgehen wie sie wollte. Sie war frei.

„Je älter ich werde, umso mehr sehne ich mich nach Freiheit. Obwohl ich die Freiheit habe, (…) ist sie in meinem Leben noch nicht vollständig ausgestattet. Jede Minute, jede Stunde nutze ich die Freiheit.“

Trotz der Hitze des Sommers, ihrer permanenten Luftnot und der schweren Sauerstoffflasche als schweres Dauergepäck, nahm sie regelmäßig weite Wege in Kauf, um sich in einer Beratungsstelle, die ihr zur Heimat geworden war, mit lieben Menschen zu treffen. Auf den Fahrten wurde sie, obwohl ihre Luftschläuche deutlich zu sehen waren, mehrfach beleidigt, weil sie keine Maske trug. Charlotte nannte diese Meckerer „harte, kalte Betonmenschen“.

Im neuen Zuhause fühlte Charlotte sich nur mittelmäßig wohl. Die Ernährungslage war schlecht und Charlottes Möglichkeiten selbst für ihr Bedürfnis nach Obst und Gemüse zu sorgen gering. Es fehlte schlicht an Geld. Charlotte bekommt keine Rente – im Heim war ihr die Bildung verweigert worden, als Erwachsene hat sie sich immer nur mit Hilfsarbeiten durchschlagen können. Dass sie sich später autodidaktisch durch alle philosophischen Richtungen gelesen hat, interessiert in der Bürokratie niemanden. Zum Leben blieb ihr nur die Grundsicherung.

„Wie oft waschen wir unsere blutige Seele sauber? Und immer wieder blutet es. Mal kommt es zum Stillstand, mal reißt die Narbe wieder auf. Ein ständiges Hin und Her. So ist es.“

Im Februar 2021 wurden mehrere Bewohner sowie ein Mitarbeiter in Charlottes Alten-WG positiv auf SARS Cov2 getestet. Sofort wurden sämtliche Bewohner in ihren Zimmern eingesperrt. Charlotte wurde zwei Mal getestet. Beide Male negativ. Dennoch wurde eine vierzehntägige Quarantäne über sie verhängt. Unverständlicher Weise durften sich die positiv getesteten WG-Mitglieder bereits nach zehn Tagen wieder frei bewegen.

Verzweifelt schrieb Charlotte an ihren Freund: „Ich bin doch negativ. Das ist Freiheitsberaubung. Du musst mir helfen!“ Aber wie? Die WG war geschlossen. Es gab kein Reinkommen. Das konnte Charlotte nicht verstehen. Mit aller Heftigkeit wurde sie zum zweiten Mal binnen eines Jahres von ihrer Vergangenheit heimgesucht. Sie war verzweifelt und in Panik. Am zweiten Tag der Quarantäne begann Charlotte einen Hungerstreik. Bei ihren Freunden schrillten die Alarmglocken. Charlotte wog nur 42 Kilogramm. Ein Hungerstreik konnte tödlich enden.

Charlottes Freund fragte einen Anwalt um Rat. Dieser sagte, man könne nichts machen, momentan reagiere die gesamte Welt irrational. Kollegen einer Beratungsstelle, die er um Unterstützung bat, zuckten die Achseln und sagten: „Was willst du machen?“ „Das sind Menschenrechtsverletzungen“, argumentierte Charlottes Freund. Doch das wollte niemand hören.

Es blieb nichts als Charlotte zu erklären, dass (wieder einmal) aushalten, die beste Option sei. Um dieses Aushalten zu erleichtern organisierte ihr Freund mit weiteren Freunden eine Rund-um-die-Uhr-Online-Bespaßung. „Zusammen“, erinnert er sich, „haben wir das halbe Internet rauf- und runtergespielt, außerdem gechattet und darüber hinaus fast täglich telefoniert“.

Mit Ach- und Krach überstand Charlotte die Quarantäne. Am Ende wog die schmächtige kleine Frau nur noch 38 Kilogramm.

Um nie wieder in solch eine Situation des Freiheitsentzugs zu kommen, entschied Charlotte, sich impfen zu lassen.

Nach der Impfung schrieb sie an ihren Freund:

„Ich habe es so satt, nun habe ich meine Rechte wieder. Das Ausgestoßensein habe ich seelisch nicht mehr verkraftet. Nun kann ich mich ausweisen, wenn ich irgendwo hin möchte und in unserem Haus bin ich mir sicher, dass keiner sagt, ich sei schuld, wenn ein Mitbewohner erkrankt.“

„Die Impfung betrachte ich als Erpressung. Um nicht mehr eingeschlossen zu sein. Man hat mir gesagt, wenn ich mich impfen lasse, habe ich mehr Rechte. Deshalb habe ich es getan, aber nur ungern. Ich habe an mein Trauma gedacht, weil ich daran zugrunde gehe. Nun fühle ich mich als Verräterin vor mir selbst. Ich habe mich wirklich selbst verraten. Das ist ein neuer Bewusstseinsschock. Ich habe mir etwas angetan, was ich mir nie verzeihen werde.“

„Der Schmerz im Arm ist weg. Jetzt habe ich „nur noch“ das Gefühl, dass ich ständig brechen muss, immerzu bin ich müde und wie benebelt im Kopf. In meinem Körper hat sich was verändert. Ich habe jetzt schon Angst vor der zweiten Impfung.“

„Ich merke, die Impfwirkung kommt Schritt für Schritt, jeden Tag ein bisschen mehr. Ich merke, dass mit meinem Körper nichts mehr stimmt. Ich habe Kopfschmerzen als wenn der Kopf platzt, ich habe Schüttelfrost und eine Hitze im Kopf, als hätte ich Fieber, außerdem diese Müdigkeit, ich habe Schmerzen im Brustbereich und meine Luft verschlechtert sich. Ich habe Angst vor der zweiten Impfung, das überlebe ich nicht noch mal.“

„Jetzt wollen sie zu Ostern wieder schließen. Was ist mit denen, die das Gift zu sich genommen haben, wegen ihrer Freiheit? Die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben… Erzähle im ganzen Team von mir und auch anderen, damit viele es wissen. Mir wäre es sogar recht, die ganze Welt erfährt, dass man erpresst wird, dass einem die Pistole auf die Brust gesetzt wird.“

Trotz ihrer schlechten Konstitution und eigener Prognose überstand Charlotte die zweite Impfung. Vorsorglich war sie in ein Krankenhaus eingewiesen worden. Das Personal päppelte die zerbrechliche Frau Stück für Stück wieder auf. Eine Ärztin und eine Psychologin (im überraschend leeren Krankenhaus – Charlotte, die öfter in diesem (sonst brechend vollen Klinikum war) wunderte sich „Hier stimmt was nicht!“) nahmen sich Zeit für ausführliche Gespräche und stellten ihr sogar in Aussicht, wieder in einer eigenen Wohnung wohnen zu können. Trotz anhaltender Nebenwirkungen lebte Charlotte wieder auf.

Darauf jedoch folgte die Enttäuschung. „Es ist die Erfahrung vieler Menschen, die ich betreut habe, dass sich kurzzeitig jemand ihrer annimmt. Sobald jedoch Widerstände auftreten, meldet sich niemand mehr“, erzählt Charlottes Freund.

Zurück in ihrer WG, die ihr Freund inzwischen als „furchtbares Heim“ beschreibt, in dem „ganz komische Sache vorfallen“ (einmal gab es am Wochenende nur Kartoffeln mit Salzwasser zu essen, weil das Personal vergessen hatte, einzukaufen; Besucher können sich nicht anmelden, weil niemand ans Telefon geht und auch nicht auf gut Glück vorbeikommen, weil keiner öffnet, wenn geklingelt wird) hatte Charlotte zwar ihre (eingeschränkte, weil abhängige) Freiheit wieder, doch ihre Freude am Leben war dahin. Immer wieder beschrieb sie „mit meinem Körper stimmt etwas nicht“. Charlottes Haut ist grau, der Brechreiz weiter anhaltend und nicht einmal ihr geliebtes Obst schmeckt mehr.

Alles, was ihr einmal lieb und teuer war, wird von Corona torpediert. Wochenlang freute sie sich darauf, die Philharmoniker im Fernsehen zu sehen. Als es endlich so weit war und sie den Fernseher anschalte, sah sie lauter maskierte Musiker. Sie hat den Fernseher sofort wieder ausgemacht. „Das halte ich nicht aus“, erklärte sie. Überall steht Corona und nichts daneben. Das machte ihr Angst.

„Bei meinen Kollegen“, sagt ihr Freund, „steht das bloße Überleben scheinbar über allem“.

Für Charlotte steht die Freiheit über allem. Aufgrund ihres körperlichen Zustands wird diese immer eingeschränkt bleiben.

Im Juni beschloss Charlotte ihr Leiden nun endgültig zu beenden. Erneut bemühte sie sich um eine Sterbebegleitung. Erneut vergeblich. Also entschied sie, sich selbst zu helfen.

„Nichts kann man verdrängen, sogar die Kindheit kann man nicht verdrängen, weil es immer noch eine offene Wunde ist bei allen, die darunter gelitten haben.“

Zeit ihres Lebens galt Charlottes höchstes Streben dem nach Selbstbestimmung. Folgerichtig hat sie sich nun entschlossen ihren Weg selbstbestimmt zu Ende zu gehen.

Der Grund ist nicht Corona. Der Grund ist in der Tatsache zu sehen, dass eine Regierung einen Menschen (nein, unendlich viele) einer Retraumatisierung ausliefert. Corona und der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Virus ist der Auslöser.

Herr Precht, schließen Sie bitte nicht von sich auf andere. Gehen Sie raus, sprechen Sie mit den Menschen und hören Sie zu, was sie zu sagen haben.

Charlotte beispielsweise schreibt in ihren Lebenserinnerungen über Kinder:

„Die Kinder haben eine so wunderschöne Seele! In dieser wunderschönen Seele sehe ich eine neue Welt, mit Frieden, mit Glück, mit Freude…“

 

Wer macht eigentlich Angela Merkel die Haare?

„Mama, findest du Angela Merkel hübsch?“ Oh Gott, was kommt jetzt wieder, denke ich. Doch noch ehe ich antworten kann, schnattert meine kleine Loli schon weiter: „Also, ich finde sie nicht hübsch. Aber ihre Haare, die sehen immer picobello aus.“ Ganz ehrlich, ich habe mir noch nie Gedanken, über Angela Merkels Haare gemacht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich auch nicht sofort, wie die Haare unserer Bundeskanzlerin eigentlich aussehen. Also so im Detail. Trägt sie einen Scheitel? Hat sie Strähnchen? Liegen die Haare hinter ihren Ohren oder verdecken sie sie?

„Worüber du dir immer so Gedanken machst“ staune ich meine Jüngste an. „Weißt du, was ich mich frage?“, sagt Loli, als ob sie mich gar nicht gehört hätte. „Nein, weiß ich nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß und hoffe, dass sie es mir gleich verraten wird. „Ich frage mich“, sagt Loli und dehnt dabei jedes Wort so, dass ich nun wirklich richtig gespannt bin, welche Gedanken sie gerade bewegen. Doch Loli lässt mich zappeln. Sie holt tief Luft. Dann beginnt sie noch einmal von vorn. „Ich frage mich“, sagt sie also, „ob Angela Merkel sich ihre Haare selber macht?“

Ahhh, daher weht der Wind, denke ich und schmunzle in mich hinein. Mit dieser Frage kann ich etwas anfangen. Seit nämlich Claudia, die Mama von Toni in der Schule gewesen ist, um ihren Beruf vorzustellen, will Loli unbedingt Friseurin werden. Allerdings nicht erst in zehn Jahren, sondern jetzt gleich. Um Lolis drängendem Wunsch entgegenzukommen, habe ich Glätteisen, Lockenstab, Lockenwickler, Papilotten und etliche Bürsten und Kämme gekauft und außerdem ihre Schwester überredet, sich neben mir als Modell zur Verfügung zu stellen. Inzwischen jedoch reicht es Loli nicht mehr, uns nur mit Hilfe von Lockenstab und Bürsten aufzuhübschen, sie will endlich richtig Hand beziehungsweise Schere anlegen. Dass wir das kategorisch verweigern, findet sie überhaupt nicht spaßig. Um uns zu strafen, also vor allem mich, schnippelt sie immer mal wieder an sich selbst herum. Zum Glück hat sie Locken. Die ringeln sich einfach als sei nichts geschehen. Wenn nicht hin und wieder die eine oder andere im Waschbecken läge, würde ich ihre Schnittversuche gar nicht bemerken.

„Was glaubst du, Mama?“ fragt Loli. „Willst du sie ihr etwa schneiden?“, frage ich „Quatsch“, widerspricht Loli. „Ich müsste doch erst mal üben“. Das leuchtet mir natürlich ein. Loli kann unmöglich an Angela Merkel rumschnippeln, bevor sie an mir geübt hat. „Also, was glaubst du?“ Loli lässt nicht locker. „Die wird schon einen Friseur haben, der ihr die Haare macht“, sage ich. „Wie oft?“ fragt Loli. „Was wie oft?“ Ich verstehe die Frage nicht. „Na wie oft er ihr die Haare macht?“ Woher soll ich wissen, wie oft sich unsere Bundeskanzlerin die Haare machen lässt. „Bestimmt vor jedem Auftritt“, schätze ich. „Das glaube ich auch“, stimmt mir Loli zu.

Nun sagt sie eine ganze Weile nichts mehr. Sie sitzt auf der Couch und starrt aus dem Fenster. Ich kenne meine Loli. In ihr rumort es. Ich sehe förmlich wie die Gedanken in ihrem Kopf hin- und her rasen.

Zehn Minuten lang, dann bricht es aus Loli heraus: „Das geht nicht!“ Obwohl ich auf einen Ausbruch vorbereitet bin, zucke ich erschrocken zusammen. „Angela Merkel muss sich die Haare selber machen!“ Jetzt komme ich nicht mehr mit. „Warum?“ frage ich. „Weil vielleicht Lockdown ist und die Friseure nicht arbeiten dürfen!“, erwidert Loli mit dem Habitus einer leicht genervten Lehrerin. Fassungslos starre ich meine kleine große Zehnjährige an. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen und ich denke nur: „Kindermund tut Wahrheit kund!“