Juli Zeh – Zwischen Welten

Juli Zeh – Zwischen Welten

„Moral in der Politik ist Scheiße“

Zwischen Freien Bauern

An Juli Zeh scheiden sich die Geister, die mich umgeben. Die einen feiern sie als eine, die sagt, was in diesem Land nicht stimmt, auch wenn sie es ihnen ein wenig zu sehr durch die Blume sagt.  Die anderen haben sie abgewählt, weil sie nicht klar Stellung bezieht, sondern eben nur durch die Blume spricht.
Juli Zehs Blumen sind ihre Bücher.

Als sein zweites „1984“ bezeichnet mein Freund Carlos Juli Zehs „Corpus Delicti“ – eine Dystopie aus dem Jahr 2009, in dem sie das, was 2020 mit Corona über uns gekommen ist, quasi vorwegnimmt.
Juli Zeh – eine Seherin? Wie George Orwell? Für Carlos definitiv.

Als ich ihm erzähle, dass ich Juli Zeh live erlebt habe, ist er ganz neidisch.
Warum habe ich ihm nicht Bescheid gesagt?
Carlos verrät mir, dass Juli Zeh dafür verantwortlich sei, dass ich heute noch mit ihm sprechen könne. Ihr „Corpus Delicti“, sagt er, habe ihn zurück ins Leben gebracht. Eineinhalb Jahre nach einer schweren Herzoperation, von der er sich nicht erholte und langsam aber sicher aus dem Leben verabschiedete. Ein Freund schenkte ihm in dieser (Lebensend)Phase „Corpus Delicti“. Carlos verschlang es – einmal, dann noch einmal und schließlich ein drittes Mal. Mit jedem Lesen kehrten immer mehr Lebensgeister in ihn zurück. Sein Orwellscher Blick – mit dem er seit der Lektüre von „1984“ erst durch die DDR und anschließend durch die sich erweiternde Welt gegangen war – erwachte wieder und wollte gefüttert werden.

Wenn ich das gewusst hätte? Natürlich hätte ich Carlos gefragt, ob er mitkommen wolle. Wie auch ich gefragt worden war, ob ich mitkommen wolle – zur Mitgliederversammlung der Freien Bauern Brandenburgs. Selbstverständlich wusste Claudia, meine Nachbarin und Lieblingsbäuerin, dass Juli Zeh mich überzeugen würde. Aber auch sonst war ich neugierig – auf diese mir doch so fremde Bauernwelt. Zwar lebe ich auf dem Land, plausche hier mit dem Schäfer, dort mit dem Rinderzüchter und beobachte fasziniert die Mähdrescher, aber eine Ahnung davon, wie es um unsere Bauern bestellt ist, was ihre Sorgen und Nöte sind, habe ich nicht. Was ich weiß, ist lediglich, dass sie große Sorgen und Nöte haben, dass die Bürokratie sie auffrisst und sie Angst haben müssen, von großen Konzernen verschluckt zu werden.

Vor einem Jahr waren sie deshalb auf der Straße – mit all ihrem schweren Gefährt. Mich bremsten sie damals aus. Ich war auf dem Weg, um Schulkindern das Hockeyspielen beizubringen. Plötzlich stockte der Verkehr. Nix ging mehr. Weder vor noch zurück. Die Hockeystunde fiel aus.  

Fremde vertraute Welt

Nun sitze ich zwischen genau jenen Bauern, die vor einem Jahr die Wege nach Berlin verstopften.
Es ist ein Eintauchen in eine mir bisher unbekannte Welt. Doch irgendwie ist sie mir auch vertraut. Der große festliche Saal. Die langen weißbetuchten Tische. Das Buffet. Die emsigen Kellner. Die Blaskappelle auf der Bühne. Das Entscheidende jedoch ist das freundliche, verbindende Miteinander.
Es erinnert mich tatsächlich an früher, an meine Kindheit, meine Kindheit in der DDR – als wir regelmäßig Hausgemeinschaftsfeste feierten, Straßenfeste, Vereinsfeste, an denen irgendwie alle mitwirkten, jeder seinen Beitrag leistete.  
Auch das gemeinsame Singen passt ins Damals. Lauthals schmettern wir die Brandenburghymne. Ich lese sie vom Zettel ab. Später im Fernsehen sehe ich, dass auch Juli Zeh am anderen Ende des Saals, mitgesungen hat.

Dann betritt sie die Bühne. Eine kleine zierliche Frau, die Reinhard Jung, der Geschäftsführer der Freien Bauern vorstellt – als eine Schriftstellerin, die kritische Themen anspricht und damit auch durchdringt.

Mit ihrem letzten Buch „Zwischen Welten“, einem Briefwechsel, den sie gemeinsam mit Simon Urban schrieb, machte sich Juli Zeh zur Sprecherin des Bauernstandes. Ich selbst stand dem Buch kritisch gegenüber, fand den Austausch zwischen der Milchbäuerin Theresa und dem Hamburger Journalisten Stefan zu konstruiert. Die Art und Weise, in der die beiden korrespondieren und sich immer wieder in ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Ansichten vor den Kopf stoßen, war mir so fremd, dass ich einen solch ausdauernden verbalen Schlagabtausch für völlig unrealistisch hielt. Freunde jedoch versicherten mir, dass es durchaus und nicht wenige Menschen gäbe, die derart miteinander kommunizierten.
Überzeugt von der Qualität der „Zwischen Welten“ hat mich schließlich Claudia, meine Lieblingsbäuerin. „Alles, was über uns Bauern und unsere Probleme darinsteht“, sagt sie, „stimmt hundertprozentig. Das Buch ist richtig gut recherchiert“.

Spaltung – Gefahr und Chance

Nun sitzt Juli Zeh leger in dem alten Omasessel auf der Bühne und erzählt, dass sie die Bauernproteste vor einem Jahr als etwas sehr Positives erlebt habe und denke, da sei etwas angekommen, vor allem, dass es noch Bauern gäbe und diese enorm wichtig für die Zukunft des Landes seien. Auslöser für diese Einschätzung sind ihr die vielen Bürger am Straßenrand, die sich mit den Bauern solidarisierten und diese aus der Ecke der Wutbauern herausholten. Als Reinhard Jung fragt, wie daraus Kapital zu schlagen sei, antwortet Zeh, dass in der größten Gefahr zugleich die größte Chance läge und diese hieße: SPALTUNG.

´Aha`, denke ich und spitze die Ohren. Ich bin gespannt auf die Erklärung.

Die AfD, gegen die allerorts Stimmung gemacht werde, sagt Zeh, verstehe sie als Weckruf. Zehn Jahre lang habe der Wecker geklingelt, nun begänne man ihn zu hören. Mit dem Hören verknüpft Zeh auch die Hoffnung, dass das Framing – „eine ganz falsche Reaktion der Politik“ – endlich ein Ende habe und Probleme in den Vordergrund rückten, die künftig sachlich diskutiert würden.
Dafür, fügt sie an, müsse die Klingeltaste allerdings weiter energisch gedrückt werden. Was sie damit meint, erläutert Zeh wenig später als sie sagt, sie wundere sich, wie viel sich die Leute gefallen ließen, schließlich passierten so viele Dinge, dass eigentlich ständig zig Leute nach Berlin ziehen und auf die Straße gehen müssten.
Zeitgleich warnt sie davor, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Sachlich und bei den Themen bleiben, ist ihr wichtigstes Anliegen.

Fehlendes Vertrauen

Ich sitze da und höre gespannt zu, meine Freunde und ihre unterschiedlichen Ansichten über Juli Zeh immer im Ohr. Ich prüfe und befinde, dass Juli Zeh ganz schön Klartext redet,
wenn sie bestätigt, wie gefährlich es sei, wenn sich in der Politik Koalitionen, die einander hassen, gegeneinander ausspielen, anstatt zu handeln und zu gestalten.
Wenn sie sagt, viele Themen seien ideologisiert und moralisiert und machten eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich.
Wenn sie sagt: „Moral in der Politik ist Scheiße!“
Wenn sie sagt, was ihr fehle, sei das komplette Vertrauen, dass die Bürger überhaupt etwas allein hinbekommen würden. Bei Corona habe man das erlebt.  Allerdings, sagt sie weiter, sei dieses Bevormunden nicht erst bei Corona erfunden worden, dort habe man es nur ganz deutlich gesehen, das fehlende Vertrauen in die Eigenverantwortung.

Ich bin begeistert. ´Von wegen Blume. Nichts da. Deutlicher geht es nicht`, denke ich gerade, als Juli Zeh aus dem Publikum gefragt wird, wann sie denn endlich aus der SPD austreten würde.
Oh, Juli Zeh ist in der SPD?, das wusste ich gar nicht.
Nach allem, was ich bisher gehört habe, rechne ich fest damit, dass sie nun ein Austrittsdatum in Aussicht stellt. Doch nein. Juli Zeh lehnt es ab, irgendwo dabei zu sein, wo alles 100prozentig stimme.  Im Nachhinein denke ich, ich hätte aufspringen und fragen sollen, wie viele Prozente für sie denn noch stimmten. Viele können es nicht mehr sein. Deutlich unter fünfzig Prozent.
Tja, Chance vertan. Ich bin noch am Aufnehmen, brauche zum Verdauen und komme erst zu Hause auf den Gedanken, dass ich hätte nachfragen sollen.

Juli Zeh spricht weiter, von Treue zur Idee als Institution.
Ich frage mich, was für Institutionen sind unsere Parteien, die uns im Wahlkampf die Hucke volllügen und sich zu keiner Zeit auch nur im Anflug um die Belange der Bürger kümmern. Unsere Politiker, das ist meine Erkenntnis aus dem Erleben der letzten Jahre, sind meilenweit von meinem Leben und noch viel mehr von dem der Arbeiter und Bauern entfernt.

Hatte Juli Zeh das vor ein paar Minuten nicht gerade bestätigt? Als sie davon sprach, dass gerade hier in diesem Landstrich zurzeit durchaus Erinnerungen an die sozialistische Planwirtschaft wach werden könnten, als den Menschen aus ortsfremden Zentren viele strenge Regeln aufoktroyiert wurden, egal ob diese einen Sinn ergaben oder nicht.

Alles Taktik?

Hallo? Juli Zeh?
Was soll ich davon halten?

Claudia, meine Lieblingsbäuerin hat Verständnis. Sie denkt, Juli Zeh müsse so taktieren, um nicht in eine Ecke gestellt zu werden und dadurch ihre Reichweite einzubüßen. Indem sie durch die Blume spricht, glaubt Claudia, erreicht Juli Zeh viele, viele Menschen, die sich abwenden würden, wenn die Schriftstellerin sich bei anderen Themen als denen, die die Bauern betreffen, ebenso glasklar positionieren würde.
Mein Freund Michael macht ihr genau das zum Vorwurf. Während der CoronaZeit wartete er vergebens auf deutlichere Worte von Juli Zeh, zum Beispiel zum politischen Missbrauch des Virus, zu Abhängigkeiten von Ämtern und von Lobbyisten oder zum Versagen der Judikative, der die studierte Juristin als Verfassungsrichterin in Brandenburg angehört. „Ich kann ihr nicht vertrauen“, sagt Michael. „Ich hätte Angst, dass sie mit meiner Meinung spielt.“

Was mache ich damit? Ich wollte mir ein Bild verschaffen.

Nach ihrem Auftritt bleibt Juli Zeh noch ein wenig, plaudert, beantwortet Fragen, wirkt sehr zugewandt und auf Augenhöhe.

Sind Michael und meine Erwartungshaltungen zu groß? Sind sie falsch? Wir beide positionieren uns klar. Genau wie Claudia und auch Carlos. Allerdings sitzen wir alle nicht bei Lanz und Maischberger und werden als Mittler zwischen den Welten um unsere Meinung gefragt. Würde Juli Zeh noch gefragt werden, wenn sie sich eindeutiger positionieren würde?

„Wie man es macht, macht man es verkehrt“, pflegte meine Oma früher gerne zu sagen.
Was ist richtig, was ist falsch? Was würde ich an Juli Zehs Stelle tun?
Ich weiß es nicht.
Und hoffe auf ihren Orwellschen Blick, der offenbar einen Funken Licht am Ende des Tunnels sieht.
 

Ein Brief aus Rußland

Krieg ist ein Ort, den es nicht geben sollte!

Der Krieg war weit weg als ich 2019 begann Menschen, die im 2. Weltkrieg noch Kinder waren, zu ihren Kriegserlebnissen, ihren Erinnerungen an diese Zeit zu befragen. Eines dieser inzwischen alt gewordenen Kinder war Heide, Jahrgang 1940 und mit Ende des Krieges Vollwaise. 1943, kurz vor seinem „Verschwinden“ schrieb ihr Vater einen berührenden Brief an sein kleines Heidelein.
Inzwischen ist der Krieg noch ein paar Jahre weiter weg und dennoch so viel näher.
Warum? Wofür?
Krieg ist ein Ort, den es nicht geben sollte! Nirgendwo auf der Welt!

Väter gehören nach Hause und nicht an die Front!

Rußland, 31. Juli 1943

Mein liebes Heidelein,

neulich flog ein Schwälbchen ein Stückchen mit uns als wir auf staubiger Straße marschierten. Manchmal blieb es auf dem Telefondraht sitzen und zwitscherte uns allerlei vor, als würde es fragen, wer bist du?
Was sollte ich ihm sagen? Ein Soldat? Ein großer Junge, der Krieg spielt? Nein, ich sagte, dass ich ein Vati bin und erzählte von meinem kleinen Mädchen, von dir mein Heidelein. Von deinen blonden Haaren und deinen kecken Sommersprossen. Ich trage deine Fotografie immer bei mir, schaue sie mir jeden Tag an. Ich habe sie auch dem Schwälbchen gezeigt. Es fragte, wo du zu Hause bist. Und weißt du was? – das Schwälbchen glaubt dich zu kennen. Hast du es mir geschickt? Sollte es mich grüßen?
Das Schwälbchen ist ganz froh, weil es hier so viele Mücken gibt. Hast du ihm davon erzählt?
Es war schön, sich mit dem Schwälbchen zu unterhalten. Eine ganze Zeit ist es neben uns geflogen, immer neben und über unserem marschierenden Zug auf der staubigen Straße so weit weg von zu Hause, hier vor Riga.
Nun lässt dich, mein liebes, artiges Heidelein das kleine Schwälbchen grüßen und bittet dich, allen Schwälbchen in Neu-Zittau zu bestellen, dass es hier noch viele, viele Mücken und Fliegen gibt, die unglaublich gut schmecken.
Nur wir Soldaten mögen die Mücken gar nicht. Sie stechen so garstig.
Aber nun ist ja das Schwälbchen hier und frisst sich satt und wenn du noch mehr schickst, ist bald keine Mücke mehr zum Stechen da.
Ich hab dich lieb mein Heidelein. Mir geht es gut.
Spiel schön und sei innigst gegrüßt von deinem Vati.

Montags bin ich Gärtnerin

Montags bin ich Gärtnerin.

Lavendel

Ich dufte.
Auch noch nachdem ich in den See gesprungen bin und mich eine gefühlte Ewigkeit habe treiben lassen.
Den ganzen Vormittag habe ich in Lavendel gebadet. Nun haftet er mir an. Genau wie die Sonne. Meine Haut spannt.
Ich habe Lavendel geschnitten. Die oberen Drittel der Halme mit den überduftenden Blütenständen habe ich in einem großen Korb gesammelt. Der Korb riecht genau wie ich. Nur noch intensiver.
Die unteren beiden Halmdrittel habe ich stehen lassen, sie dürfen noch einmal austreiben und den Insekten den Herbst versüßen. Im Frühjahr werde ich auch sie schneiden – für einen üppigen Sommer.
Seit Montag bin ich Gärtnerin.
Nicht in meinem eigenen Garten, sondern zwei Dörfer weiter.

SUCHE HILFE IM GARTEN

– lautete die Anzeige, über die ich vor drei Wochen in unserem Amtsblättchen stolperte. Wie oft schon hatte ich mir überlegt, einfach mal in Berufe reinzuschnuppern? Gärtnern stand dabei immer ganz oben.

Außerdem brauchte ich einen Ausgleich. Ich bin viel zu viel im Kopf, mit viel zu vielen Projekten. Häufig dreht es sich in mir.

Natürlich könnte ich auch in meinem eigenen Garten gärtnern. Natürlich mache ich das auch. Allerdings ohne große Leidenschaft. In anderen Gärten gärtnert es sich irgendwie leichter.

Am Sonntag stellte ich mich bei Klaus und Monika vor. Der Garten ist schön. Lavendel, Wein, Brombeeren, Oregano, zwei Apfelbäumchen, hier und da ein Strauch und viel Wiese mit Blick in die Weite der Uckermark.

Ich solle einfach machen, was ich für richtig halte, sagte Monika. Seit Klaus nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt, kommt sie nicht mehr dazu ihren Garten zu pflegen. Den Rasen mähen die Nachbarn, hier und da schneiden sie auch mal die Sträucher runter.
Nun bin ich da und stürze mich in den Lavendel. Krieche in sein Gehölz und rupfe das wilde Gras, das in ihn hineinwächst. Um mich herum summt und brummt es. Eine der Bienen scheint mich in meinem Tun zu begleiten, wohin ich auch krauche, sie bleibt bei mir, surrt immer über mir.

Ich habe Kopfhörer eingepackt, hatte vor, mir die letzte Folge meiner neuesten spotify-Entdeckung anzuhören – seit drei Wochen lausche ich begeistert dem Literaturpodcast „Zwei Seiten“ von Christine Westermann und Mona Ameziane.
Hier im Lavendel jedoch gefällt mir das Lied der Biene viel besser. Endlich einmal bin ich nur im Jetzt. Gedanken kommen und gehen. Ich scheuche eine Spinne auf. Und was ist das? Die Erde bewegt sich. Hebt und senkt sich als würde sie atmen. Eine erdfarbene Kröte. Sitzt einfach da und atmet. Ihre kupfernen Augen blinzeln nicht einmal. Sie sieht aus, als habe sie sich ausgezogen. Nackt. Erdkröten, lese ich später, häuten sich mehrmals im Jahr.

Natur

Das Thema der Podcastfolge, die ich mir gerade nicht anhöre, ist die „Natur“. Für jede Folge suchen sich Christine Westermann und Mona Ameziane ein Thema und empfehlen sich gegenseitig je ein Buch dazu, das bzw. die sie dann besprechen. „Natur“. Wie passend. Ich könnte mitreden.

Könnte erzählen von den Eidechsen, die bei mir im Gewächshaus zwischen meinen Gurken wohnen, von dem Igel, der sich freut, dass wir unseren Laubhaufen haben liegen lassen, von den Staren, die uns erst die Kirschen und jetzt die Weintrauben mopsen und so traumhaft sicher im Schwarm fliegen, das es wie ein Tanz aussieht. Von den vielen Kranichen, die jetzt gerade wieder auf unseren Feldern zum Sammeln blasen, von den Störchen, die lange nicht so friedlich sind, wie ich dachte, bis sie meine Nachbarn wurden und deren Nachwuchs greint wie meine Kinder früher geweint haben. Und natürlich auch von dem Marder, der sechs Jahre lang bei uns im Dach gewohnt und ordentlich Radau gemacht hat. Aus Angst um unser Dach hatten wir einen Kammerjäger kommen lassen, der unseren Untermieter zu einem Umzug überreden sollte. Das Mittel seiner Wahl war LAVENDEL. „Marder“, sagte der Kammerjäger „mögen keinen Lavendelgeruch“ und verstreute im gesamten Dachstuhl Lavendelkügelchen. Unseren Marder störte das nicht. Er radaute weiter – natürlich immer nur mitten in der Nacht und direkt über meinem Kopf.
Seit Ende August allerdings habe ich ihn nicht mehr gehört. Irgendwie vermisse ich ihn.
Vielleicht, überlege ich, sollte ich den Lavendelgeruch im Dach erneuern. Den Lavendel in meinem eigenen Garten habe ich noch nie geschnitten. Es wird Zeit. Der Lavendel tut mir gut.

Wie die Gartenarbeit überhaupt. Abends liege ich im Bett und rufe mir das Bild des gemachten Lavendelbeets vor Augen. Es ist so schön, sehen zu können, was man getan hat. Außer dem Lavendel habe ich noch zwei kniehoch bewachsene Wiesen gemäht, die Rose an der Hausmauer freigelegt und Laub geharkt.
Nun freue ich mich darauf, dass Monika und Klaus sich hoffentlich freuen werden, wenn sie in zwei Wochen wieder raus in die Uckermark kommen. Vor allem Monika. Als sie mir ihren Garten zeigte, sagte sie:

„Ich habe jetzt andere Aufgaben“.

In der Küche auf dem Tisch lag Helga Schuberts „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“. Ich habe das Buch gelesen. Helga Schubert beschreibt darin den Alltag mit ihrem dreizehn Jahre älteren, kranken und zunehmend in eine andere Wirklichkeit abdriftenden Mann.
Wie schnell sich ein Leben von heute auf Morgen so grundlegend ändern kann.
Auch Klaus war bis vor einem halben Jahr ein gesunder noch immer schaffender Mann. Und Monika noch keine pflegende Ehefrau.

Nächsten Montag werde ich einen kleines Lavendelsträußchen binden und in einer Vase in die Küche stellen. Wenn Klaus und Monika dann am Wochenende zum Ausruhen in ihr Häuschen kommen, soll es für sie duften.
Ein Hauch von Sommer den ganzen Herbst und Winter lang.
Ein Dank von mir – der glücklichen Gärtnerin.

 

Wer war ich, als ich 16 war?

Mitten in der Nacht

schoss mir diese Frage durch den Kopf. Natürlich kam sie mir nicht einfach so in den Sinn. Nur noch ein paar Stunden, dann würde meine Tochter 16 werden. 16. Wie erwachsen das klang. Mein kleines großes Mädchen. Das ihren so ganz eigenen Weg geht. Mit einer beachtlichen Reife, aber auch Ängsten und Sorgen, Sehnsüchten … Wir sind viel im Gespräch. Dennoch weiß ich vieles von dem, was ihr durch den Kopf geht, vermutlich nicht.

Wie war das bei mir?

Wer war ich damals? Was ging mir durch den Kopf? Wo stand ich?
Das Bild ist verschwommen. Die Zeitspanne zwischen 14 und 18 irgendwie eins. Ich sehe mich, weiß, wie ich aussah, aber wer war ich? War das ich? Wie viel ich von damals ist heute noch in mir? Natürlich sehe ich, wenn ich die Fotos von damals betrachte, eine große Ähnlichkeit, aber würde ich sie auch sehen, wenn ich nicht wüsste, dass ich das bin? Beziehungsweise gewesen bin. Wer und wie war ich damals?

Hockey – mein EIN und ALLES

Ich suche nach Erinnerungen. Sie sind nicht leicht zu finden. Aber eines weiß ich sofort und ganz sicher: Mein Anker, mein Halt, mein Leben damals war HOCKEY. Am liebsten hätte ich auf dem Hockeyplatz gewohnt. Auf dem Hockeyplatz gab es einen kleinen Clubraum, ich stellte mir vor, er wäre meine Wohnung, mein Zimmer, und ich könnte von früh bis spät Hockey spielen. Damals war mein Traum, die beste Spielerin der DDR zu werden. Selbstverständlich wollte ich auch zu den Olympischen Spielen, doch das war illusorisch, Hockey gehörte in der DDR nicht zu den olympischen Sportarten und wurde nicht gefördert.

Jetzt fällt es mir wieder ein, die Erinnerung kommt, die Schublade geht auf – als ich 16 war, erhielt ich erstmals eine Einladung zu einem Lehrgang der Juniorinnennationalmannschaft, der U19. Der Lehrgang war in Güstrow und das Ausscheidungsrennen für das Turnier der Freundschaft zwei Monate später in der Sowjetunion. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Muskelkater, die Treppen zur Mensa waren eine Marter. Dennoch war ich glücklich. Jeden Tag durfte ich Hockey spielen, mit den besten des Landes, die schnell meine Freunde wurden.

Mit meiner Heim-Mannschaft, den Damen von Rotation Prenzlauer Berg

1988 – 16-jährig spiele ich mit der Berlin-Auswahl gegen die indische Hockey-Nationalmannschaft

Zwischenspiel Schule

Ich sehe mich auf der Rückfahrt im Zug, beseelt und zugleich tieftraurig – noch sechs lange Wochen waren es bis zum nächsten Trainingslager. Plötzlich erinnere ich mich ganz genau, ich saß in Fahrtrichtung am Fenster – allein im Viererabteil, widerwillig kramte ich mein Geschichtsbuch und meine Mitschriften aus der Tasche. Morgen hatte ich meine schriftliche Abschlussprüfung. Meinen Eltern hatte ich versprechen müssen, mich trotz des vielen Trainings ordentlich auf die Prüfung vorzubereiten. Am Abend wollte mich mein Vater abfragen. In Güstrow hatte ich nicht ein einziges Mal ins Buch geschaut. Nun blätterte ich durch die Seiten zur Französischen Revolution, las und las und dachte dabei nur daran, dass ich, als Jüngste der Truppe, als zweite Nachrückerin für das Turnier der Freundschaft nominiert worden war.

Am Abend im Wohnzimmer, mein Vater simulierte die Prüfung, wusste ich nichts. Mein Vater war entsetzt. Und ich auch. Ich war Klassenprimus und sah mich schon dem Gespött der ganzen Schule ausgesetzt. Was konnte ich jetzt noch tun? Mein Vater schickte mich mit meinem Buch ins Bett, dort sollte ich mir noch einmal alles durchlesen und dann das Buch unters Kopfkissen tun.

Am Morgen zog ich los, darauf gefasst, das erste Mal in meinem Leben total zu versagen. In meinen Gedanken stehe ich wieder im Prüfungsraum. Er war im Erdgeschoss im Wohnhaus neben der Schule. Warum hier? Hatte die Schule den Raum extra angemietet? Fünf Menschen saßen in der Prüfungskommission. Ich schaue in das Gesicht von Frau Gehm, sie hatte ähnlich lilane Haare wie Margot Honecker, neben ihr saß Frau Kaczmarek, die zweite Geschichtslehrin der Schule, und daneben unsere Pionierleiterin Frau Mann. Frau Kannegießer, unsere Direktorin, war dabei und noch ein Mann. Die fünf konnten fragen, was sie wollten, ich wusste alles. Meine Prüfung war ein einziges Freudenfest. Selbst die letzte Fangfrage, mit der Frau Kaczmarek mich nochmal aufs Glatteis führen wollte, konnte mich nicht erschüttern.
Ich glaube, den ganzen Weg nach Hause hüpfte ich. Ich hatte ein 1a-Abgangszeugnis. Und in sechs Wochen endlich mein nächstes Trainingslager.

Dirty Dancing in der Ostsee

Dieses Mal ging es mit der U16-DDR-Auswahl nach Rerik. Mein Vater hat einen Brief aufbewahrt, den ich meinen Großeltern damals aus Rerik schrieb.… „Ich bin seit gestern wieder in einem anderen Trainingslager. Bisher hatten wir einmal Training, welches aber äußerst leicht war. Besser hier ist, dass wir einmal an der Ostsee sind (waren noch nicht baden) und zweitens, dass hier auch Jungs sind, mit denen wir vorher schon im Trainingslager waren. Das Klima zwischen uns ist einwandfrei, das Wetter weniger. …“

 

Der Junge, der mich damals besonders begeisterte, hieß Gerhard und kam aus Erfurt. Aber auch Falk aus Köthen fand ich ganz dufte und Thomas aus Potsdam. Tatsächlich verliebt aber war ich, wie noch einige andere Auswahlspielerinnen auch, in unseren Nationaltrainer Frank Müller. Ich kann gar nicht mehr sagen, ob er hockeytechnisch ein guter Trainer war, aber menschlich war er einer dieser Trainer, immer auf Augenhöhe, immer zu einem Gespräch bereit. Natürlich kokettierte er auch mit uns Teenie-Verliebten. Dirty Dancing mit Patrick Swayze und Jennifer Grey in den Hauptrollen war damals unser Film. Natürlich rannten wir auch in Rerik ins Kino und danach in die Ostsee; Frank Müller gab den Patrick, und die leichtesten von uns – ich, juhu, gehörte dazu – sprangen ihm, unter dem Vorwand, die Dirty-Dancing-Hebefigur nachstellen zu wollen, in die Arme.

Nebenbei brachte mir Frank Müller in „Einzelstunde“ noch das Kraulen bei. In der Ostsee bei Wellengang. Ich weiß nicht mehr, wie viel Salzwasser ich schluckte, aber mein Können langte, um ein paar Monate später die für die Aufnahme an der DHFK in Leipzig notwendigen 25 Meter, mehr schlecht als recht zu bewältigen.

Danken konnte ich Frank Müller dafür nicht mehr. Plötzlich war er weg. Die Mauer war – für mich absolut überraschend – gefallen und mein Lieblingstrainer in die Hockeyhochburg nach Hamburg gezogen.

Was blieb,

und offenbar noch immer in mir schlummert, sind die Erinnerungen und meine Liebe zum Hockey.

Wandere ich noch, oder pilgere ich schon?

Was so ein Rucksack ausmachen kann.

Wie viele Kilometer habe ich in den vergangenen Jahren schon in meinen Wanderschuhen zurückgelegt? Insgesamt sicher mehrere Hunderte. Im letzten Jahr habe ich den Oberuckersee gleich fünf Mal in ihnen umrundet – das allein macht schon 125 Kilometer. Allerdings 125 Kilometer mit leichtem Gepäck. Nun jedoch habe ich mich aufgemacht, um zu pilgern oder einfach nur mehrere Tage zu wandern. Jedenfalls laufe ich auf dem Jakobsweg – und muss mir das erste Blasenpflaster bereits um die Zehe wickeln, noch ehe ich meinen Startpunkt Frankfurt/Oder verlassen habe.
Ursprünglich hatte ich geplant meine Wanderreise mit 11,2 Kilometern eher entspannt anzugehen, um dann jeden Tag ein paar weitere Kilometer draufzupacken, doch nichts da, noch bevor ich mein erstes Tagesziel – Lebus – erreicht habe, weiß ich, ich werde wohl eher von Tag zu Tag ein wenig abspecken.
Wer läuft auch bei 31 Grad und knallender Sonne los, die ersten zwei Kilometer noch dazu an Frankfurts unbeschatteter Hauptstraße entlang? Und dann weiter auf dem Deich – rechts kein Baum, links kein Baum, jedenfalls nicht direkt am Deichweg. Um Temperaturen habe ich mich im Vorfeld überhaupt nicht geschert. Wichtig war mir nur, nicht im Regen laufen zu müssen. Dabei weiß ich doch – eigentlich – dass mir Hitze viel mehr zu schaffen machen kann. In den heißen Wochen vor Ferienbeginn ist mir mein Kreislauf gleich zwei Mal – im wahrsten Sinne des Wortes – durchgedreht. Schwindel!
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt (erst) wieder ein? Kein Mensch weit und breit, und die Sonne brennt. Meine Haut, mein Körper auch. Ich brauche Wasser. Das aus meiner Flasche reicht nicht, um mich zu erfrischen. Ich muss baden, wenigstens die Beine. Und die Arme und das Gesicht und den Nacken. Eigentlich alles. Hundert Wiesenmeter entfernt glitzert zwischen riesigen, Schatten spendenden Bäumen die Oder. Dort will ich hin, dort mache ich mit plätschernden Beinen im Wasser Pause.

Ein Kirchturm – meine Herausforderung

Nichts lockt mich zurück in die Sonne. Aber ich kann ja nicht hier sitzen bleiben. Ich versuche es mit einer Abkürzung. Doch hüfthohes Schneidegras bremst mich. Außerdem krabbelt es wie wild. Sind das Zecken? Nichts wie weg hier und zurück auf den vorgeschriebenen Pfad.
Fünfhundert Meter kostet mich meine misslungene Abkürzung. Fünfhundert zusätzliche Meter, und der Rucksack wird auch nicht leichter. Dafür endet der Deich. Was für ein Segen. Ein dicht bewachsenes Wegelchen schlängelt sich – Schatten! Irgendwann mündet es in einer schier endlos erscheinenden Wiese. Über der Wiese haben sich Wolken vor die Sonne geschoben. In der Ferne taucht Lebus auf. Ich sehe den Kirchturm und frohlocke, gleichzeitig jedoch habe ich ziemlichen Bammel. Der Kirchturm von Lebus – er ist MEINE Herausforderung auf meinem Pilgerweg.
Auf meinem Pilgerweg? Bin ich denn überhaupt eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Tatsächlich bin losgezogen, um zu wandern. Mich mal um nichts anderes zu kümmern, als von A nach B zu kommen und dabei mit mir allein zu sein, in Betten zu schlafen, in denen ich noch nie geschlafen habe und Menschen zu begegnen, die ich noch nicht kenne. Ich will mich einlassen. Das allerdings so preiswert wie möglich.
Im Kirchtum von Lebus findet man gegen eine Spende Herberge.
Eine Nacht im Kirchtum – wie romantisch, dachte ich, als ich zum ersten Mal davon las. Inzwischen ist daraus eine ziemliche Beklemmung geworden. Die Vorstellung, hoch oben im Kirchturm zu schlafen, in einem Verschlag mit zwei ausgeschriebenen Bettstellen, ängstigt mich. Was, wenn ein mir unbekannter Mann die zweite Bettstelle belegen würde? Was, wenn die zweite Bettstelle frei bliebe und ich ganz alleine wäre, im dunklen Turm mit all seinen unbekannten Geräuschen und dem dort sicher wohnenden Getier? Wäre das nicht noch viel gruseliger – mutterseelenallein in einer Holzkammer unter dem Turmdach? Bis zuletzt hatte ich geschwankt, ob ich mich dieser Herausforderung stellen sollte. Augen zu und durch! Raus aus der Fantasie, rein in die Realität.
Die gruselige, dunkle Kammer hoch oben, direkt unter der Glocke entpuppt sich als ebenerdiges, lichtdurchflutetes, spartanisches, aber gemütlich eingerichtetes Zimmerchen, gut isoliert nach draußen, oben und unten sowie – für mich enorm wichtig –abschließbar. Dass Küche, Dusche und Toilette drei Kirchecken weiter und einmal quer durch den Kirchgarten liegen, stört mich nicht. Jedenfalls so lange nicht, bis der Regen, der mir zum Abendbrot unterm Schleppdach zunächst eine zauberhafte Melodie tröpfelt, so heftig wird, dass ich fürchte, nicht mehr sicher und schon gar nicht trocken in mein Kämmerlein zu kommen.
Wie machen das die Störche, die hier, wie bei uns zu Hause, gleich neben mir wohnen? Ihr Nest muss schwimmen, ihre Federn triefen. Wurde je ein Storchennest vom Blitz getroffen?
Ich liege im Trockenen und lese. Erst jetzt bekomme ich mit, dass über mir alle Viertelstunde die Glocke schlägt, zur vollen Stunde will das Geglocke gar nicht mehr aufhören. Wie schnell gewöhnt sich ein Gehirn an diese permanente Störung? Werde ich schlafen können?
Ich kann: Von zehn bis sieben Uhr schweigt die Glocke. Dafür tobt das Unwetter.

 

Da ragt er heraus, der Kirchturm von Lebus – meine Herausforderung

Wie mag der alte Fontane gewandert sein ?

Am Morgen dagegen strahlt die Sonne – sofort wieder mit voller Wucht. 31 Grad den ganzen Tag. Das ist nicht mein Wetter.
Was sagen die Störche dazu? Haben sie ein Lieblingswetter? Denken sie überhaupt über so etwas nach? Oder nehmen sie einfach nur hin?
Der Weg ist grün. Nur Urwald um mich herum. Was für ein Glück. Hier lässt es sich aushalten. Ich verstehe nicht, wie man ganze Wälder zugunsten von Windrädern und Solarparks abholzen kann. Noch dazu, wenn parallel über einen unaufhaltsamen Temperaturanstieg geklagt wird? Unter dem dichten Blätterdach ist es gerade mindestens fünf Grad kühler als ein paar Kilometer weiter auf dem Deich. Herrlich.
Wenn nur dieser schwere Rucksack nicht wäre. Seit Jahren schon stelle ich mir vor, im Alter, also wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind, loszuziehen und Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neu zu schreiben. Aber mit diesem schweren Rucksack? Wie hat der alte Fontane das gemacht? Bestimmt nicht per pedes mit seinem halben Hausstand auf dem Rücken.
Links neben mir erstreckt sich das Mühlenfließ. Eine Aneinanderreihung kleiner Teiche, die einer den anderen speisen. Bäume wurzeln im Wasser, Entenflott, so weit das Auge reicht. Flirrende Sonnenstrahlen. Ich bleibe stehen, muss ein Foto machen. Plötzlich sind sie da: Mücken. Eine ganze Armada stürzt sich auf mich. Ich schlage auf meine Beine, meine Arme, meinen Kopf und flüchte. Sofort lassen die Mücken von mir ab. Zum Glück.
Vor dreißig Jahren haben mich Mücken mal durch einen ganzen Wald gejagt. Die kleinen Plagegeister hatten meine Freundin Dana und mich beim Blaubeersammeln aufgespürt, attackiert und gleich noch alle Verbündeten der näheren und weiteren Umgebung aufgestachelt uns ein für alle Mal aus ihrem Wald zu vertreiben. Eine Viertelstunde rannten wir, dann waren wir aus dem Wald und die Plagegeister los.

Der Urwald des Mühlenfließ

Wölfe, Hunde, Mirabellen

Was war das? Ein Rascheln. Ich muss an vorgestern Abend denken, an unsere Hunderunde in der Dämmerung, an meine panische Lilo, die den ganzen Weg über Wölfe witterte. Schauen mich da zwei Augen an? Vier? Gibt es hier überhaupt Wölfe? Na klar, Polen ist nicht weit, von dort sind sie doch eingewandert. Was, wenn gerade jetzt hier ein Isegrim meinen Weg kreuzt? Eigentlich machen die ja nichts, aber wenn ausgerechnet heute doch? Meine Fantasie … Ich checke die Umgebung, suche Bäume, auf die ich klettern könnte. Zuerst müsste ich natürlich den Rucksack abwerfen und dann … Was, wenn mir das Handy beim Sprung auf den Baum aus der Hosentasche fällt? Dann sitze ich halbhoch oben und traue mich nicht runter. Meine Beine werden immer schneller. Der Rucksack immer leichter. Plötzlich liegen Mirabellen vor mir auf dem Waldboden. Die Sammlerin in mir erwacht. Ich lasse es mir schmecken. Kein Wolf kann mich mehr schrecken.
Was der Weg alles bereithält: Brombeeren, Pflaumen, sogar die ersten Augustäpfel. Und einen See. Ich schwitze wie ein Elch und tauche ein wie eine Forelle.
Nicht weit entfernt bellt ein Hund die polnischen Radfahrer an, die eine Stunde lang den Weg gesucht haben, auf dem ich gleich an dem Hund vorbei muss. Shirley MacLaines „Jakobsweg“ kommt mir in den Sinn, oder war es der von Paolo Coelho? Darin beschreibt sie/er die Begegnung mit den wilden Hunden von – ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß. Als ich das Buch las, wusste ich, diesen Weg werde ich nicht gehen. Mittlerweile würde ich mich wohl wagen. Unser Trixihund hat mich therapiert. Natürlich bellt der Schnäuz, als ich den Weg an seinem Gartenzaun passiere. Ich summe mir ein Lied.
Es ist gerade mal drei Uhr, als ich die Pension an der Orgelwerkstatt erreiche. Ich bewohne sie ganz alleine. Die Wirtin ist momentan selbst auf dem Jakobsweg unterwegs und gerade bei den Meistersingern in Nürnberg. Ihr Mann, der Orgelbauer, verköstigt mich mit plückreifen Tomaten aus seinem Garten, Zwiebeln und Basilikum. Ich schnappe mir ein Buch und genieße meine Zweisamkeit mit mir.

Allein mit mir

Bin ich ein Scharlatan?

Am Morgen drückt mir der Orgelbauer meinen ersten Pilgerstempel in meinen Pilgerpass. Bin ich nun eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Den Pass hatte ich mir vornehmlich besorgt, um die Pilgerherbergen nutzen zu dürfen. Bin ich ein Scharlatan? Nein! Ich bin eine Pilgerin! Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.

Zum Abschied hat mir Christian, der Orgelbauer, einen Pilgersegen mit auf dem Weg gegeben. Seine Worte haben mich tief ergriffen. Heute werde ich noch zehn Kilometer pilgern, dann bin ich wieder zu Hause. Auf dem Weg beschäftigt mich Christians Vergleich des Pilgerns mit dem Begriff des Ablasshandels. Geht es, fragte er, nicht genau darum, abzulassen, von allem, was einen beschwert, vor allem auch von den vielen Gedanken, und einfach nur den Weg zu gehen?
Ich gehe ihn ziemlich zackig, merke ich plötzlich. Den Rucksack spüre ich kaum noch.
Kein Zweifel, ich pilgere, bin auf dem Weg. Ist nicht das ganze Leben eine Pilgerreise?