Mama und ihre Töchter

Ein Ausflug – vielleicht

Berlin, 30. April 2024

Liebe Nori,

jetzt weiß ich, was ich all die Jahre verpasst habe. Seit Sonntag kann ich deine Begeisterung für das Theater am Rand endlich nachvollziehen. Caro hatte mich ganz kurzfristig eingeladen und ich bin noch völlig geflashed. Was für ein Ort, was für ein Ambiente, was für eine Kunst – großartig!!! Und alles eingebettet in diese unglaublich schöne Landschaft. Ich bin total verzaubert.
Nun habe ich die Idee, falls du noch nicht weißt, was du Mama zum Geburtstag schenken willst (ich hoffe sehr, dass du es noch nicht weißt!), dass wir sie zusammen ins Theater am Rand einladen könnten. Mama und ihre Töchter – ein Ausflug. Was hältst du davon?
Ich habe auch schon mal geschaut, welches Stück terminlich passen würde – das wäre „Die Glut. Ein literarischer Säbeltanz nach dem Roman von Sándor Márai“ entweder am 15. oder 16. Juni oder das Wochenende darauf. Was sagste, biste dabei?
Bestimmt doch!!!

Ich drück dich Schwesterherz,
Kathi.

Lest hier Kathis letzten Brief an Nora.

Es geht nicht um Schuld und Entschuldigung …

… ich will wissen, wie es dir geht!

Löcknitz, 26. April 2024

Liebe Nora,

manchmal glaube ich, ich werde gesteuert. Ich weiß zwar nicht von wem, aber nicht von mir. Von meinem Unterbewußtsein? Meinem höherem Selbst? Von Gott? – Oh Gott!!!
Auf alle Fälle bin ich – dank dieser Steuerung –  seit gestern einen Schritt weiter in meiner Coronaufarbeitung.
Ich habe eine Frau im Nachbardorf besucht, bei der es mich immer sehr geschmerzt hat, dass wir uns über Corona getrennt haben. Nachdem ich gestern in Prenzlau zu tun hatte und eigentlich schnurstracks nach Hause wollte, fuhr mich mein Auto ungefragt ins Nachbardorf. Also wirklich, mein Auto fuhr mich zu ihr. Und dann stand ich in ihrer Küche und sagte: Ich weiß, du willst nicht aufarbeiten und ich brauche das in dem Sinne auch nicht, mir geht es nicht um Schuld und Entschuldigung, aber ich will von dir wissen, ich will wissen, wie es dir ging, wie du mich wahrgenommen hast, was zwischen uns passiert ist und ich will, dass du von mir weißt, wie es mir ging und geht…
Und weißt du, was sie geantwortet hat?
Sie fragte: Wollen wir gleich?
Und ob ich wollte. Nora, es war total schön. Wir haben zusammen geweint. Das war sehr bewegend.
Jedenfalls erzählte sie mir, dass sie wahrnähme, dass die Regierung gerade dabei sei, Sachen zuzugeben. Also zuzugeben, dass Dinge falsch gelaufen sind. Ich habe das Gefühl, es  brauchte erst dieses offizielle Eingeständnis, damit sie ihren Blick nun auf Sachen richten kann, die für sie vorher überhaupt nicht in ihrem Sichtfeld lagen.
Nun sieht sie diese Sprachlosigkeit, und zwar ganz deutlich, sieht, dass unser Auseinanderdriften auf Vermutungen gefußt hat, dass wir uns mit unseren Vermutungen gegenseitig zu Deppen gemacht haben und nur aufgrund dieser Vermutungen nicht mehr miteinander konnten und wollten. Das fand ich sehr interessant.
Langsam dringt auch das Thema Impfung in ihr Bewusstsein und die damit einhergehende Ausgrenzung von uns Ungeimpften – sie sagt, sie habe das damals überhaupt nicht wahrgenommen, weil sie so mit sich beschäftigt war.
Mit einem Mal kann sie dieses Leid sehen, das wir durch diese Ausgrenzung erlebt haben, die sie nicht erlebt hat. Dafür hat sie andere Dinge erlebt, zum Beispiel die Einsamkeit während des Lockdowns.
Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich uns da stehen sehe in ihrer Küche. Es tat so gut. Tut es noch immer. Ich bin so froh, meinem Auto (oder wem auch immer) gefolgt zu sein und bin gespannt, was weiter passiert.
Das Leben ist schön, finde ich.

Emma.

 

 

 

Reicht aufschreiben?

Wie umgehen mit dieser Zeit?

Pinnow, 24. April 2024

Liebe Camilla,

ich kann mich tatsächlich noch daran erinnern, wie begierig ich diesen deinen Text im Magazin von 1-19 verschlungen habe. Deine Fragen waren auch meine Fragen.
Was sagst du heute, drei Jahre später? Hast du Antworten? Wie erlebst du den Umgang mit der CoronaZeit, die ja gerade erst vorbei ist – ist sie vorbei? – in der die Welt plötzlich Kopf stand?
Mich schaudert es, wenn ich von all den Ungeheuerlichkeiten lese, die du aufzählst, die aber tatsächlich genauso passiert sind. Von denen so viele Menschen aber nichts mitbekommen haben. Nichts mitbekommen wollten?
Mein Papa fragte mich gestern völlig perplex, was du mit Waffengewalt meinst – Pfefferspray? Nein!!! Richtige Waffen. Ich habe es noch ganz deutlich im Ohr, wie Paul Brandenburg in seinem Podcast davon erzählte, wie das SEK seine Wohnung gestürmt hat, mit entsicherten (waren es?) Pistolen …  Jedenfalls keine Spraydosen!
Was machen liebe Camilla?
Reicht aufschreiben?

Liebe Grüße,
Nora.

Lest hier, was Camilla an Nora schrieb!

Weichgespülte Erinnerung

Meine Erinnerung ist wie ein Paket

Löcknitz, 23. April 2024

Liebe Nora,

ich gedulde mich.
Muss dir aber unbedingt schon heute schreiben, weil mich dein Text aus der CoronaZeit echt bewegt. Es ist total gut, dass du das alles so genau aufgeschrieben hast. Ich habe Vieles gar nicht mehr im Detail parat, ganz im Gegenteil, ich merke, dass Etliches von dem, was ich erlebt habe, in meiner Erinnerung wie weichgespült ist. Meine Erinnerung ist wie ein Paket, das ich fest verschnürt habe und an das ich nur als Paket denke und an die Einzelteile, die darin stecken, gar nicht rankomme.
Das ist verrückt!
Dein Text hat mich echt bewegt. Vor allem auch das, was du über Jens schreibst. Und da kommt mir die Frage, ob es damals nicht auch einen Grundknacks in dir gegeben hat … Dieser wackelnde Mann .. Stand er zu dir und zu dem, was du gemacht hast, was du gesehen hast, wie du gedacht hast? Natürlich muss er nicht so denken wie du, aber eine Stärkung sein – oder? Darüber habe ich nachgedacht. Weil es mich irgendwie total traurig berührt hat.
Ich weiß nicht, ob das bei mir gegangen wäre, mit Micha …

Ich denke weiter …
Unser Austausch gefällt mir.

Liebe Grüße
von Emma, die seit heute – jippiyeah – Urlaub hat 🙂

 

Hier findet ihr Noras letzten Brief an Emma – vom 21. April 2024

Einfach Schwamm drüber? Und dann?

Aufarbeitung – jetzt!

Berlin, 22. April 2024

Liebe Nora,

Danke für diese großartige Idee! Tatsächlich habe ich Ende 2020 angefangen meine Gedanken über das, was damals und bis heute  mit mir, mit uns, der Gesellschaft, unserem Weltbild, der Demokratie geschieht, niederzuschreiben. Es ging und geht nicht anders, es muss raus! Und es ist mein verdammter Job als Journalistin. Ich musste und muss noch immer reden, auch wenn ich weiß, dass es vielen nicht gefallen wird…

Zu der Zeit, in der du die Erfahrung mit deinem Hannes und dieser Testerei niedergeschrieben hast, ich sehe gerade, es ist heute auf den Tag genau drei Jahre her, schrieb ich folgenden Text:

 

Aus gesellschaftlicher Perspektive stelle ich mir seit Monaten folgende Frage: wie wird es nach Beendigung der „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ mit unserer Gesellschaft weitergehen? Werden wir nahtlos da weitermachen, wo es im Februar 2020 begann?

Wie wird der Polizist, der qua seines Amtes und der Verfügung durch die Regierung Privatwohnungen kontrolliert, Gastronomen und Unternehmer, die ihrer Arbeit nachkommen wollten, mit horrenden Geldstrafen belegt hat, Masken-Verweigerer verfolgt und abgeführt hat, Grill-Nachmittage mit Waffengewalt aufgelöst hat in den Spiegel schauen? Der Nachbar, der die Zahl der Menschen im Nebenhaus minutiös gezählt, für strafbar erachtet und angezeigt hat? Der Politiker, der es in Kauf genommen hat, dass Millionen Kinder massive psychologische Schäden durch den endlosen Lockdown erlitten haben?  Journalisten, die Masken-Kritiker als potentielle Mörder bezeichnet, sich dafür ausgesprochen haben Impf-Kritiker zu ächten?

Werden wir alle als Gesellschaft sagen: Nun ist alles wieder gut, Schwamm drüber, lass uns zusammenkommen, das Leben feiern? Werden die Millionen Demonstranten, die auf der Straße ihr Grundrecht ausgeübt haben und gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten, dafür aber als rechtsradikal und verantwortungslos diffamiert wurden und in der Folge unter anderem ihren Job verloren sagen: Lass es gut sein, es war eben die Corona-Zeit. Werden die Ärzte, die vermeintlich falsche Atteste ausstellten und dafür von der Staatsanwaltschaft aufgesucht wurden wieder Vertrauen in ihre Mitmenschen, in uns als Gesellschaft haben? Die Epidemiologen, Virologen, Ethiker, die für ihre kritische Haltung in einer Demokratie ihres Amtes enthoben, strafversetzt oder gekündigt wurden? Lehrer und Schüler, die der Schule verwiesen wurden, weil sie keinen Sinn in einem prophylaktischen Test zweimal die Woche sahen? Journalisten, die staatlich überwacht wurden, weil sie eine kritische Meinung vertraten?

Wird alles einfach so weitergehen wie vorher?

Werden die Volksvertreter sagen: Tut mir leid, dass wir aktuell (Stand: April 2021) hunderte Milliarden Staatsschulden, Millionen Arbeitslose, Tausende insolvente Klein- und Mittelunternehmer, eine zerstörte Generation Kleinkinder und Jugendliche haben. Tut mir leid, dass wir die Epidemische Lage von nationaler Tragweite aktuell ohne Evidenz aufrechterhalten haben, aber es war nicht anders möglich, und ich stelle mich jetzt erneut zur Wahl?

Wie haben wir das nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht?
Weggeschaut.
Jahrzehntelang.
Niemand will diesen Vergleich hören, denn niemand darf etwas mit dieser Zeit vergleichen.
Aber wir haben damals weggeschaut, sehr lange.
Dann wurde aufgearbeitet und daraus gelernt.
Das meinen wir heute.

Delegationen aus Ländern wie Kolumbien kamen zu uns, um sich anzuschauen, wie großartig die Deutschen ihre Geschichte aufgearbeitet haben, um es eventuell ähnlich zu tun.

Wie werden wir es „nach Corona“ – eine Zeit, von der niemand weiß wann es sein wird, wie sie gestaltet werden kann – machen? Werden wir so tun, als ob es „nur“ ein nicht enden wollender Lockdown war, „nur“ Künstler, die ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden, „nur“ alarmierend zunehmende intrafamiliäre Gewalt, „nur“ ein drastischer Anstieg von Suiziden bei Erwachsenen und Kindern, „nur“ eine Generation von Kindern, die mit der Sendung mit der Maus und in der Schule gelernt haben, dass Querdenker und Menschen ohne Maske ihr Leben gefährden, „nur“ Jugendliche, die ihre beste Zeit nicht erleben konnten, nur eine wissentlich ruinierte Wirtschaft, „nur“ Politiker, die unsere demokratischen Werte mit Füßen getreten haben?

Wir müssen jetzt anfangen.
Wir müssen in der Politik, in den Medien, in der Nachbarschaft, in den Schulen, in den Kitas, in der Straßenbahn das friedliche Miteinander wieder üben, jeden Tag. Ein Leben ohne Moral-Keule, Denunziation, Schuldzuweisung. Ein Leben mit Toleranz, Integration, Wertschätzung, Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen, ein Leben in Demokratie, mit mündigen Bürgern und Eigenverantwortung.

 

Danke Nora, dass du unsere Gedanken gebündelt zu Papier bringst!
Herzlich, Camilla
Erschienen am 22.04.2021 in dem Magazin 1bis19, Camilla Hildebrandt war Mitgründern des Magazins.
https://1bis19.de/gesellschaft/ueberlegungen-zum-danach/