Was für ein Druck auf Joshua Kimmich

Wie hätte ich mich als junge Sportlerin verhalten?

Pinnow, 4. Juli 2024

Liebe Emma,

mit einem Brief an dich tauche ich wieder auf aus meiner Briefwechselpause.
Ich habe gerade die ZDF-Dokumentation über Joshua Kimmich gesehen – die hat mich so bewegt, so berührt, tut sie noch immer. Ich glaube, da schlägt mein altes, naja, mittelaltes Sportlerherz wieder durch.
Tatsächlich ist es ja ziemlich eingeschlafen. Früher habe ich keine Sportveranstaltung im Fernsehen verpasst, kannte alle Fußballer, Leichtathleten, TT-Spieler … Und heute? Ich war mal Sportjournalistin. Darüber lacht sich mein Schwiegersohn in spe schlapp, der kann sich das überhaupt nicht vorstellen, weil ich einfach niemanden mehr kenne. Okay, Thomas Müller,  Manuel Neuer, die alten Recken schon , und Kimmich eben – den allerding vor allem durch seinen Heldenmut in der CoronaZeit. Was der hat aushalten müssen. Seit damals bin ich übrigens auch Fan von Tennisspieler Novak Djokovic, der mir eigentlich viel zu verbissen und ehrgeizig ist, jedenfalls wirkt er so, aber krass, der hat einfach (haha) widerstanden. Wenn der heute auf den Platz geht, bin ich sofort für ihn. Findet mein Schwiegersohn blöd. Neulich kommentierte er: „Also ich bin für jemanden wegen seiner Leistung und nicht wegen seines Impfstatus´.“ Das habe ich abperlen lassen. Ich bin für Djokovic. Und insgeheim hoffe ich, dass auch Kimmich widerständig geblieben ist und einen Deal hat machen können, der ihn nach außen als geimpft ausweist.

Weißt du, was ich mich immer frage: Wie hätte ich mich als junge Sportlerin verhalten? Überleg mal, wer zu Olympia wollte, musste geimpft sein. Gab es da Schlupflöcher?
Sport, Hockey war mein Leben. Wirklich, Hockey bedeute alles für mich. Wenn mir da so ein mRNA-Stein in den Weg gelegt worden wäre. Also mir, mit meiner Denke von heute. Denn damals, ich glaube, ich hätte das alles gar nicht hinterfragt. Ich hätte mir die Spritze geholt. Mein Nachdenken über solche Dinge kam erst mit meinen Kindern. Und meine Kinder kamen erst nach meiner Karriere.

Hatte ich dir erzählt, dass es in der Hockeyregionalliga einen Verein gab, der mitten in der laufenden Saison seine Mannschaft zurückziehen musste, weil zu wenig Spielerinnen nicht geimpft waren und damit das 2G-Reglement nicht erfüllten. Aber das war noch nicht alles – daraufhin wurden der Verein mit einer Strafe belangt, weil die Mannschaft im laufenden Spielbetrieb ausgestiegen ist (aussteigen musste) und das natürlich neue Spielansetzungen und den ganzen bürokratischen Rattenschwanz nach sich zog. Rate mal, woher die Mannschaft kam 😊! Ich habe ihnen geschrieben und ihnen ein Exemplar des Briefwechsels geschickt, als Sympathiebekundung. Man, man, man …

Wie war das eigentlich mit deinem triathletenden Sohn? War der unter Druck? Er ist ja geimpft, oder? Freiwillig?

Das wollte jetzt alles raus liebe Emma.
Wie geht es dir? Du warst ja auch in Kontemplation – bist du schon wieder gesellschaftsfähig?

Ich sende dir ganz liebe Grüße,
Nora.

 

Lest hier Noras letzten Brief an Emma.

Menschlichkeit im Jahr 2022

Wir lassen sie fliegen

Berlin, 26. Juni 2024

Liebe Nora,

vor zwei Jahren habe ich einen Text geschrieben, der mir sehr am Herzen liegt. Möchtest du ihn in deinem offenen Briefwechsel veröffentlichen?
Saludos, Camilla.

 

„La dejamos volar“ – (wir lassen sie fliegen)
  Menschlichkeit im Jahr 2022

Zügig ziehen die Wolken am blauen Himmel vorbei, den ich durch die beige Häuserwandschlucht erspähen kann. Es ist nicht so heiß wie sonst, ein großes Glück. Es wäre sonst unerträglich, die vorgeschriebene FFP2-Maske zu ertragen. Die riesige Taucher-Brille, nein, die werde ich auch heute nicht anziehen. Aber die Schwestern kennen mich schon, kein Versuch, mich zu überreden. Maske, Plastikhandschuhe und Plastikschürze kann ich akzeptieren, sogar die Netzhaube, „die, wie vieles, zu gar nichts nutze ist“, sage ich zu einer der Schwestern. Wir lachen beide leise auf der Intensivstation des Universitätsklinikums. So sind die Regeln eben. Aday ist gerade essen, da muss der Tod noch etwas warten. Aber dann lassen wir sie fliegen. Sie liegt da, wie ich sie selten erlebt habe: ruhig, ohne Vorwurf, ohne Beschwerde, ohne Anklage. Ich rede leise mit ihr, weine, schluchzte, und dann muss ich raus in die Sonne, kurz durchatmen, frische Luft spüren, mein Herzrasen beruhigen. Ich gehe im Krankenhauspark spazieren, kaufe mir Schokolade, rufe meine Familie an, meine beste Freundin, die im Urlaub am Ende der Welt ist, aber dennoch da.
Dann ist Aday vom Essen zurück. Ich summe: ´Eu sei que vou te amar´ (ich weiß, ich werde dich lieben), es kommt kaum ein Ton raus.

Erneut die gesamte Montur, aber ohne Brille. Keiner fragt mich hier, ob ich bei meiner Mutter sein darf oder nicht. Soll ich doch noch warten? Soll ich die Maschinen anlassen, ihren Körper hier behalten? Auf was warte ich? Dass wir uns doch noch verstehen, dass ich mich von ihr geliebt fühle, dass sie mich akzeptiert? „Ich bin da“, flüstere ich. „Ich habe dich sehr lieb, wahrscheinlich schon immer, aber jetzt ist es einfacher. Ich verzeihe dir und ich verzeihe auch mir, dass ich nicht die Türen der Covid-Station im 9. Stock eingetreten habe, um dich zu besuchen.“

Im 9. Stock Neurologie gibt es normale Zimmer und Patienten mit Covid, die von der Außenwelt abgeschirmt werden, wie Aussätzige; im Jahr 2022. Die Pfleger trauen sich, anders als auf der Intensivstation, nur mit Ganzkörperschutzanzug herein, wie ich ihn vorher nur aus dem Fernsehen kannte. Oder ist es wegen der sogenannten Regeln? Aber die Regeln müssen von Menschen eingehalten werden, um sie aufrechtzuerhalten. Im 9. Stock stellt sie niemand in Frage. Meine Mutter lag dort fünf Tage. Sie hat Covid erst im Krankenhaus bekommen, symptomlos. Als der Test endlich negativ war, wurde sie über 24 Stunden weiterhin wie aussätzig behandelt, ohne Besuchsrecht. Denn es war kein Bett frei, um sie zu verlegen. Der Transport in das Universitätsklinikum HUC auf den Kanaren dauerte auch über 24 Stunden. Es gab keinen Krankentransportwagen für eine 86-Jährige mit Gehirnblutung. In das erste Krankenhaus habe ich sie selbst gebracht, denn laut Anruf unter 112 wäre der Wagen des Rettungsdienstes frühestens in drei Stunden da gewesen.

Über ihr hohes Fieber auf Station 9 hat mich später, trotz täglicher Anrufe, niemand informiert, erst als sie durch das Schlucken des Erbrochenen einen Herzstillstand erlitt und auf der Intensivstation wiederbelebt wurde. Meine dringenden Bitten bei der Krankenhausdirektion, eine Ausnahme von den Covid-Besuchsregeln auf Station 9 zu machen, wurden ignoriert. Und das deutsche Konsulat meinte, es täte ihnen sehr, sehr leid, sie bekämen vieler solcher Anrufe, könnten aber leider nichts tun. Die Inselregierung Teneriffas hat sich nicht die Mühe gemacht, mir zu antworten.

Die Regeln stehen über allem, auch 2022, vor allem über der Menschlichkeit. Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte, von der Generalkonferenz der UNESCO 2005 als große Errungenschaft bezeichnet, ist hier nicht von Bedeutung.

Artikel 3: Menschenwürde und Menschenrechte, Punkt 2. ´Die Interessen und das Wohl des Einzelnen sollen Vorrang vor dem alleinigen Interesse der Wissenschaft oder der Gesellschaft haben´, ist nichtig.

Ich schaue Aday an: „la dejamos volar ahora“. 

Er stellt die Maschinen ab.
Mein Körper bleibt erstaunlich ruhig, ich ersticke weder vor Schluchzen, noch breche ich in Tränen aus, wie an den anderen Tagen. Aday steht neben mir, „ich kann gehen, wenn es dich stört.“ Ich schüttele kaum merklich mit dem Kopf. Jetzt laufen mir die Tränen über die Wangen.

Ihr Herz schlägt regelmäßig.

Sie ist ruhig.

Die vielen Zahlen auf dem Monitor werden ganz langsam weniger.

Wo ist der Tod?

Ich habe ihn gespürt, als ich 18 war. Er war da und wartete auf mich. Aber ich bin nicht mitgegangen, ich wollte so dringend und ohne jede Diskussion leben.
Jetzt ist er nicht fühlbar.
Es ist ruhig.

Sie ist ruhig.
Aday ist ruhig, steht bei ihr und schaut, dass sie in keiner Sekunde leidet. Wie macht er das? Wie hält er es aus? Er spricht leise mit mir.
Ruhe.
Zahlen.
Meine Mutter.

Die Maschine piept.
Ich umarme Aday lange.

Ich kenne ihn gar nicht.
Wie viel Liebe es hier unten auf der Intensivstation gibt.

 

Freitag 29. Juli 2022

Camilla Hildebrandt, studierte Romanistin und ausgebildete Radiojournalistin, arbeitet seit rund zwanzig Jahren für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, Schwerpunkte Bildung, sozialkritische Musik. 2013 bis 2020 war sie als Dozentin der DW Akademie für Journalismus in Bolivien, Guatemala, Brasilien, Libanon und Palästina tätig. Heute arbeiten sie zudem für das Online-Magazin Multipolar (https://multipolar-magazin.de) und Kontrafunk (www.kontfrafunk.radio).

 

 

Nur die Menschlichkeit zählt

Der kleine einzelne Mensch will Kontakt und in Frieden leben!

Schweden, 19. Juni 2024

Liebe Nora,

ich will dir schon so lange schreiben, aus meiner kleinen schwedischen Oase, und davon, was wir hier  jeden Tag praktizieren und was ich mir so sehr auch im Großen wünsche – herzliche Menschlichkeit.
Seit zwei Monaten besuche ich einen Sprachkurs; ich lerne jetzt richtig Schwedisch. Jeden Tag sitze ich mit Menschen aus aller Herren Länder in einem Raum und radebreche mit ihnen gemeinsam Schwedisch und darüber hinaus noch etliche andere Sprachen – das ist ein herrliches Kauderweslchen. Wir haben unheimlisch viel Spaß zusammen.
Ich weiß gar nicht, wie viele Nationen hier zusammenkommen, aber was mich berührt ist die Tatsache, dass Russen neben Ukrainern sitzen und beide zusammen mit uns Deutschen – wir erzählen uns unsere Geschichten, übersetzen zusammen und verbringen inzwischen auch unsere Freizeit gemeinsam. Das ist alles so unkompliziert und verbindend. Wir sind so hilfsbereit miteinander und ich verstehe nicht, warum, dass, was wir hier im kleinen Rahmen so großartig leben, im Großen nicht klappen soll.

Vergangene Woche war ich auf Stippvisite in Deutschland und bin erschrocken, wenn ich sehe, wie wir Deutschen, Russen, Ukrainer – und es werden ja ständig mehr Länder zu Feinden –  uns auf anderen, höheren Ebenen total bekriegen, nicht mehr miteinander reden können und planen, den anderen zu vernichten.

Während bei uns hier einfach nur die Menschlichkeit zählt.
Das ist so beeindruckend zu sehen – die Menschen wollen keinen Krieg. Der kleine einzelne Mensch will Kontakt und in Frieden leben!
Und nur wenige große Player, die wollen Krieg. Denen müssen wir doch das Handwerk legen!

Bis du am 3. August bei der großen Friedens-Demo in Berlin dabei? Ich komme und würde dich gerne sehe.

Liebe Grüße,
Evi.

 

 

 

Der Graben ist weiter sehr tief

Meine Schwester will nichts wissen, leugnet

Berlin, 16. Juni 2024

Liebe Nora Mittelstädt,

ich wollte mich schon längst bei Ihnen gemeldet haben wollen. Es ist wieder einiges passiert in meinem Leben und mein Körper reagiert darauf scheinbar recht empfindlich. Zwei Mal kurz hintereinander war ich sehr stark erkältet und bin noch immer nicht wieder richtig gesund.

Ein ziemlich heftiges Ereignis war ein teilweise sehr kontroverses Treffen mit einer meiner Schwestern. Da fielen Aussagen, die taten und tun noch immer so weh – der (Corona)Graben zwischen uns bleibt weiter sehr tief. Es ist so erschreckend. Ihr Unwissen, ihr Unglauben, darüber, was in den letzten vier Jahren passiert ist und  inzwischen doch überall nachzulesen ist. Aber sie will davon nichts wissen, lehnt es ab, sich damit zu beschäftigen, überhaupt davon Kenntnis nehmen zu wollen, leugnet. Über die RKI Protokolle, von denen sie natürlich noch nichts gehört hatte, sagte sie beispielsweise, die könnten ja eigentlich nur gefälscht sein. Es ist einfach unglaublich!

Am Vormittag des gleichen Tages erzählte mir mein Bruder vom plötzlichen und unerwarteten Tod des Mannes meiner Freundin. Unweigerlich schoß mir der Gedanke in den Kopf, die Impfung könnte dafür verantwortlich sein.

Mir geht es überhaupt nicht gut, ich bin so sensibel, das empfinde ich als äußerst belastend. Momentan bin ich außerstande eine gesunde Distanz zur Gegenwart und zur jüngeren Vergangenheit aufzubauen.

Die kleinste Nachricht versetzt mich in Angst und Unruhe, so dass ich oft nur wenig schlafe. Sogar meine Träume sind komplett durchsetzt von Ereignissen der furchtbaren Gegenwart.

Was tun? Ich habe mir erst einmal Nachrichtenabstinenz verordnet. Das heißt, ich verzichte vorerst auf all die wichtigen und informativen Nachrichten und Interviews der neuen Medien.  Aus den Regierungsmedien bin ich ja schon lange raus, weil sie für den gesunden Menschenverstand schier unerträglich sind.

Nun aber auch den Kontrafunk und all die anderen Medien auszuschließen, fällt mir schwer und ist auch mit großer Traurigkeit verbunden. Aber ich sehe momentan keine andere Möglichkeit, meine Gesundheit zu schützen.

Zum Glück geht es mir finanziell recht gut und so kann ich den Widerstand wenigstens durch Spenden unterstützen.

Am Sonntag fahre ich für zwei Wochen nach Sizilien und hoffe, dass ich mich dort ein wenig erholen kann.

Beim nächsten Brief bin ich hoffentlich wieder in besserer Stimmung
Und verbleibe mit herzlichen Grüßen

Ihre Anna Biosch

 

 

Wort

Vertraue dem, der zweifelt

Schwedt, 6. Juni 2024

Liebe Nora,

herzlichen Glückwunsch zum Abtauchen. Das finde ich ganz wichtig und richtig. Dennoch schreibe ich dir bevor du wieder auftauchst. Ich war heute nämlich endlich mal in „deinem“ Café Kleinschmidt in Eberswalde und bin begeistert. Das ist ja eine tolle Atmosphäre, drinnen wie draußen. Was mich aber ganz besonders beeindruckt hat, war – nein, nicht die Wand mit den vielen tollen Promis, die dort schon aufgetreten sind, sondern – der Kleinschmidtkurier. Das ist ja mal eine abgefahrene Speisekarte. Allein dafür lohnt sich der Besuch. Ich habe bestimmt eine Stunde darin gelesen. Und muss dir – ich hoffe du kennst ihn noch nicht – den großartigen Text inclusive Vortext zu dem von dir so geschätzten Udo Jürgens schicken. Auf der Rückfahrt habe ich seine Lieder und vor allem „Wort“ in Dauerschleife gehört.
Wie aktuell!
Gerade jetzt vor den Wahlen.
Weißt du schon, wen du am Sonntag wählen wirst? Wenn nicht, hilft vielleicht dieser Text – also der von Udo, aber auch der von Kleinschmidt-Inhaber Christian Günther, der hats ja auch drauf.

Liebe Grüße. Genieße die (Taucher-)Glocke,

Paule.

 

Haben Kiesewetter, Hofreiter und Strack-Zimmermann komplett den Verstand verloren

Dieser Text, ursprünglich geschrieben für das Projekt Friedensnoten, erschien zuvor auch schon im Kleinschmidt Kurier Extrablatt zu unserem 15. Jubiläum im Dezember 2023. Da in den Monaten seither aber die überdröhnte Kriegsrhetorik bei Politikern der Tradierten-Vier (SPD, CDU, FDP, Grüne Partei) und unter unkritischer Schützenhilfe weiter Teile der Medienlandschaft inzwischen in einem Ausmaß eskaliert, dass es einem nur noch Angst und Bange wird, soll er hier als Diskussionsbeitrag erneut abgedruckt werden.

Haben Kiesewetter, Hofreiter und Strack-Zimmermann (um nur die schärfsten politischen Einpeitscher mit fragwürdiger Expertise zu erwähnen) nun inzwischen komplett den Verstand verloren? Sie reden zürnend ernsthaft von „Frieden sichern“ und pumpen immer mehr und immer heftigere Waffen in einen Krieg, der Zusehens außer Kontrolle gerät und Tag für Tag tausende Opfer fordert und drohen in ihrer staatsdiplomatischen Unfähigkeit ganz Europa darin zu verwickeln. Ja, Putin betreibt Propaganda, ohne jeden Zweifel, und vertritt beherzt seine Interessen, die unseren zum Teil diametral gegenüberstehen. Das ist nichts Neues in der Weltgeschichte. Und der sich selbst so gern so nennende „Wertewesten“? (Welch moralische Anmaßung allein schon in dieser Selbstbezeichnung steckt!) In manipulativer Propaganda und im Vertreten der eigenen Interessen stehen Washington und Berlin dem Kreml-Chef um nichts nach. Und mindestens mit Blick auf die US-Administration leider auch allzu häufig unter Anwendung höchst zweifelhafter Methoden. Prinzipientreue gegenüber internationalen Standards ist leider viel zu oft unter dem Label „Verteidigung der Demokratie und Menschenrechte“ als Ausnahme verletzt worden, wo es letztlich eben doch auch wieder nur um das Durchsetzen eigener Machtinteressen ging, als dass blindes Vertrauen noch irgendwie aufrechtzuerhalten wäre. Berlin ist nach Jahrzehnten wieder neu auf diesem Terrain und stellt sich noch reichlich trottelig an. Das Ausmaß der intellektuellen Sparsamkeit im diplomatischen Korps ist mittlerweile gefährlich und schüttet mit wenig dienlichen Provokationen Auswege, die zumindest erst einmal zum Ruhen der Waffen führen könnten, zu.

Man muss inzwischen die New York Times lesen oder die beiden größten Blätter der Schweiz (die Neue Züricher Zeitung und die Weltwoche; letztere liegt im Kleinschmidt jede Woche für Sie aus), weil man von deutschen „Qualitätsmedien“ z.B. eben leider nicht erfährt, dass bereits 2014, also noch vor der völkerrechtlich ohne Zweifel unzulässigen Annexion der Krim und ganze acht Jahre vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, an der Grenzlinie zu Russland zwölf seither sich in Einsatzbereitschaft befindende, voll besetzte CIA-Spionage-Bunkeranlagen errichten wurden, die zur Koordination von Angriffen dienen. Stellen Sie sich bitte nur kurz vor, wie wohl eine Regierung in Washington reagieren würde, wenn es von gleichartigen Anlagen des russischen Geheimdienstes direkt an der US-Grenze auf mexikanischer Seite erführe? Nur so aus Spaß. – Mir persönlich fehlt jedenfalls jede Phantasie, mir vorzustellen, dass das Weiße Haus und das Pentagon ganze acht Jahre nur mit Warnungen und Drohungen verbrächten, bis sie die Situation in ihrem Interesse zu bereinigen gewaltsam einschreiten würden.

Bitte missverstehen Sie mich richtig, um es mit Gregor Gysi zu sagen: kein Angriffskrieg soll in irgendeiner Weise gerechtfertigt werden. Nur sollten wir nicht so naiv sein, den Humbug zu glauben, dass irgendeine Regierung aktiv einen Krieg befeuert, weil es um irgendwelche höhere Werte geht. Es geht immer um Machtinteressen. Die mögen zuweilen sogar legitim sein. Nur ihretwegen Krieg zu führen und Hundertausende in den Tod zu schicken, ist es niemals. Oder wie es der Papst erst kürzlich sagte: „Krieg ist Wahnsinn, für den es keine Entschuldigung gibt. – Die Menschen müssen erkennen, wer am Krieg die Gewinner und die Drahtzieher sind. – Letztlich ist der Krieg eine Reise ohne Ziel, eine Niederlage ohne Sieger.“

Frieden gegen Russland wird in Europa nicht möglich sein

Der wirklich moralisch gute Herrscher, wird immer versuchen, den Krieg zu vermeiden, auch um den Preis mögliche Konzessionen machen zu müssen, die einen machtstrategischen Nachteil bedeuten. Doch dieser Nachteil kann nicht schwerer wiegen als millionenfacher Tod und noch weit mehr geschundene Seelen und ein Land in Schutt und Asche. Noch immer gilt, was schon lange gilt und wohl auch noch sehr lange gelten wird: Frieden in Europa wird gegen Russland nicht möglich sein. Dabei ist es vollkommen unerheblich, ob uns die russischen Interessen erfreuen oder nicht oder ob uns der Stil des jeweiligen Zaren oder Präsidenten in Moskau sonderlich behagt. Wir werden mit ihm auskommen müssen und sollten stets einen Ausgleich der Interessen, einen respektvollen Umgang und eine friedliche Koexistenz anstreben. Alles andere wäre saudumm und brandgefährlich. Bundeskanzler Willy Brandt und sein Minister Egon Bahr (beide aus einer SPD, die es so schon lange nicht mehr gibt) haben das erkannt und mit ihrer Ost-Politik gegen alle Widerstände mitten im kalten Krieg den Frieden gesichert (und zurecht den Friedens-Nobel-Preis dafür erhalten). Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder haben diese Politik über dreißig Jahre lang fortgesetzt, sonst wäre die deutsche Wiedervereinigung in Kohls Amtszeit niemals möglich gewesen. Und danach? Nun ja.

Jeder Idiot, der heute öffentlich fordert, man müsse den Krieg nach Russland tragen, sei daran erinnert, dass er zum einen verfassungsfeindlich Unsinn redet und dass zum anderen die NATO qua Statut ein reines Verteidigungsbündnis ist. Wir Bürger sollten darauf bestehen, dass das auch genauso bleibt! Solange aber von außen keine Armee in ein NATO-Land einfällt, dürfen Politiker gerne unsere militärische Potenz mit Waffen-Viagra päppeln, dass wir im Falle eines Angriffs abwehrfähig sind, bevor der Angreifer in ein NATO-Land einfällt. Mehr nicht!

 

Das Wort

Das Wort – und darum geht es in dem Werk von Udo Jürgens und in dem Text, der sich mit dem Stück auseinandersetzt – hat eine ungeheure Macht. Es kann mit Kraft für das Gute werben, aber es kann auch sträflich zur infamen Heuchelei und Propaganda missbraucht werden. Das zu erkennen ist nicht immer leicht, aber es ist die Kunst, die wir als Bürger beherrschen müssen, um nicht in die Irre geführt zu werden.

 Mein lieber Freund, der Musiker Jens Fischer Rodrian, lud mich ein, einen Beitrag zu dem Projekt Friedensnoten zu schreiben, das er gemeinsam mit dem Autor und Journalisten Marcus Klöckner im Sommer 2022 ins Werk setzte. Das Format publiziert Texte von Autoren, Musikern, Filmemachern, Künstlern, auch Journalisten und Wissenschaftlern, in denen sie sich anhand eines Friedensliedes oder Anti-Kriegsliedes ihre gesellschaftlichen Gedanken machen.

So sind inzwischen über 60 sehr interessante Beiträge entstanden, Reflexionen über Krieg und Frieden und unsere Gesellschaft, anhand von so unterschiedlichen Liedern wie „If you tolerate this, your children will be next“ von den Manic Street Preachers, dem unvermeidlichen „Imagine“ von John Lennon, aber auch z.B. eine großartige Abhandlung von der Autorin Sylvie-Sophie Schindler unter dem Titel „Aus Angst vor dem Dunklen“, der das gar nicht so banale „Ein bisschen Frieden“ von Nicole zugrunde liegt.

Die Einladung, mich an dem Projekt zu beteiligen, war mir eine große Freude und Ehre und ich habe es gern gemacht.

Ich habe mir „Wort“ von Udo Jürgens als Fundament meines Beitrages gewählt.

Ja, Udo Jürgens und ich. Wer mich nur etwas kennt, weiß, dass abgesehen von meiner grundsätzlichen Liebe zur Musik beinah aller Spielarten der große Udo Jürgens einen ganz besonderen Stellenwert für mich hat und wohl ganz sicher mein Leben lang haben wird.

 

Das Wort. Seine Macht über Krieg und Frieden.

Ein Beitrag und ein paar Gedanken zum wundervollen Projekt >Friedensnoten<

von Christian Günther

 

Friedensnoten.

Frieden.

Noten.

 

Können Lieder, kann Musik über Krieg und Frieden entscheiden?

Kann es ein Wort?

Oder mehrere zu Satz und Sätzen gewordene?
Kann Sprache unser Tun und Handeln so weit lenken, dass wir eher verstehen oder gar lieben oder eben hassen und letztlich töten?

Ja. Ich glaube, ja.

Umso mehr, wenn Wort und Noten sich vereinen, wenn aus ein paar Worten und ein paar Tönen ein Lied wird, dass in die Seele dringt und in uns resoniert, nachhallt, Gefühle freilegt und Gedanken entzündet.

Der große Udo Jürgens veröffentlichte Ende des Jahres 1979 sein insgesamt sehr wichtiges Album „Udo´80“, auf dem als letztes Stück das unter Aufsicht von Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern aufgenommene, diesem Beitrag zugrunde liegende sinfonische Werk „Wort“ erstmals veröffentlicht wurde. Oliver Spiecker hatte nach langen Gesprächen und dem inhaltlichen Impuls von Udo Jürgens, der es wie fast alle seiner Lieder auch komponiert hat, den Text nach seinen Ideen verfasst.

Bei Veröffentlichung war ich 14 Monate alt.

Erst als ich 14 Jahre alt war, erreichte mich dieses großartige Werk in der, wie ich bis heute finde, noch schöneren, weil noch intensiveren, noch eindringlicheren Live-Fassung des damals gerade erst erschienenen Albums „Open Air Symphony“.

Mein Gott, ich war 14 und hörte solche Musik!

Ich war 14 und auf der Suche nach Inhalten, nach einem Fundament, dass mir und meinem Leben einen festen Grund geben könnte, in dieser erkennbar reichlich wirren und oft nun wirklich (mindestens von uns Menschen!) nicht zu Ende gedachten Welt.

Udo war ein guter Lebenslehrer; ist es bis heute; vielleicht der beste. Aber das wäre irgendwann vielleicht ein Thema für ein eigenes Buch…

Da bist Du 14 Jahre alt und das inmitten historischer Ereignisse (in der DDR geboren, die gerade mit einem in der Geschichte vermutlich fast einmaligem friedlichen Furor an ihrer eigenen ideologischen Dämlichkeit einfach zusammengebrochen ist), willst pubertieren, willst aber auch mit gebotenem Ernst die Welt 1. verstehen und 2. verbessern und bekommst dann diese Zeilen als Denkaufgabe zur Ablenkung von deiner unbegründeten Dauererektion samt größenwahnsinniger Revolutionsphantasien angeboten:

 

Wort, du bist Gedankenelement
Kannst Illusion sein, die verbrennt
Bist unbegreiflich, wenn man dich begriffen nennt

Wort, du trägst so vielerlei Symbol
Bist in Ideen Weltenpol
Kannst überladen sein und auch bisweilen hohl

Wort, du bist so leise und so sacht
Dabei hast du die größte Macht
Die diesen Erdenball umschließt und ihn regiert

 Wort, du wirst geflüstert und zitiert
Du bist der Leitstrahl, der uns führt
Hast Krieg und Frieden schon diktiert

Wort, du hast so vielerlei Gestalt
Und bist so unerreichbar alt
Kannst glühend heiß sein und so kalt

Wort, du wirst mißbraucht und kommandiert
Hast Diktatoren dirigiert
Und ganze Völker schon verführt

Wort, bist du auch manchmal rigoros
Und triffst uns wie ein Degenstoß
Denn deine Wirkung ist nicht nur im Guten groß

Wort, du bist so zärtlich und so warm
Dein Klang nimmt uns in seinen Arm
Du bist die Brücke, die die Menschen näherbringt

Wort, du wirst melodisch, wenn man singt
Bist ein Signal, das in uns dringt
Du bist die Sinfonie, die nie verklingt

 Zweifel als Antwort. Na wunderbar!

Zweifel als Antwort. Ja, wunderbar!

 

Die Lüge erkennen

Vielleicht ist das die wichtigste Lektion, die mir mein Lebenslehrer hat mitgeben können!

Vertraue, wenn das Wort sich wahrlich aufrichtig, gelebt und aus tiefstem Herzen gefühlt anfühlt!

Selbst wenn es fehlerbehaftet ist und nicht frei von menschlichen Makeln.

Aber misstraue, um Himmels Willen misstraue (!!!), wenn Du Taktik witterst, Kalkül oder moralisch aufgeladene Heilsversprechen!

Vertraue dem, der zweifelt!

Misstraue dem, der Dir letztinstanzlich und alternativlos mit Weisheiten droht. Umso mehr, wenn er Dir mit Verachtung und Repressalien droht, wenn Du diese nicht befolgst.

Das Wort kann streicheln und trösten, versöhnen, Hände reichen, nach Wahrheit und Aufrichtigkeit schürfen und den Frieden beschwören.

Das Wort kann aber auch Zwietracht sähen, Verachtung nähren, Hass versprühen und den Krieg entzünden.

Vielleicht gelingt es uns nicht immer die Wahrheit zu begreifen, aber es genügt die Lüge zu erkennen, sie zu demaskieren, um dem Frieden zu dienen.

„Am Anfang war das Wort!“ hallt durch immer leerer werdende Kirchenschiffe jener erste Satz aus dem Evangelium des Johannes. Und wer von uns seinen ganz persönlichen Gottesbezug, völlig unabhängig von menschengemachten Konfessionen, noch nicht verloren hat, kann sie geradezu physisch spüren, diese sagenhafte Kraft eines festen Wortes. Zu glauben, dass ein kraftvoll dröhnendes „Es werde Licht!“ genügt, dass kurze Zeit später auch Licht ward, muss jeder für sich entscheiden, aber dass ein hunderttausendfach beharrlich vorgetragenes „Wir sind das Volk!“ friedlich, aber bestimmt ausgerufen ein ideologisch hyperventilierendes Machtsystem zum Einsturz bringen kann und eine bis an die Zähne bewaffnete Schutzmacht abziehen, statt alles zusammenschießen lässt, haben wir erlebt.

Wir haben auch erfahren, dass ein wirr krakeeltes „Ja“! aus zehntausend aufgepeitschten Hälsen auf die diabolische Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ in den Untergang führte.

Schimpft mich naiv, wenn ich mir nach dem dritten Glas Wein gerne versuche auszumalen, wie es wohl gewesen wäre, wenn in diesem Moment im Februar 1943 im Berliner Sportpalast Göbbels, diesem Arschloch, auf seine Frage ein zehntausendfaches „NEIN!“ entgegengerufen worden wäre. Hätte er alle zehntausend an Ort und Stelle erschießen lassen? Wohl kaum. Die meisten von ihnen werden allerdings in den folgenden zwei Jahren in diesem wahnsinnigen Krieg wohl ohnehin ihr Leben verloren haben; mindestens ihre Lebensgrundlage.

 

Wort, du wirst mißbraucht und kommandiert
Hast Diktatoren dirigiert
Und ganze Völker schon verführt

aber eben auch und genauso wahr:

Wort, du bist so zärtlich und so warm
Dein Klang nimmt uns in seinen Arm
Du bist die Brücke, die die Menschen näherbringt

 

Wenn heute jemand mit feurigem Eifer und keinen Zweifel ertragend sagt, er wolle geächtete Streumunition in einen Krieg liefern, um Frieden zu erreichen –

Wenn heute jemand seine gesundheitliche Führsorge auch um den Preis meiner existenziellen Vernichtung anbietet –

Wenn jemand Verachtung bei Nichtbefolgung androhend Formulierungen verbieten will, weil sie ideologisch gefiltert vielleicht menschenverachtend verstanden werden könnten –

Wenn ein Demokrat, die 50% die ihm nicht zustimmen als Antidemokraten bezeichnet –

Wenn jemand mein Vertrauen will, aber blinden, unkritischen Gehorsam fordert –

 

Wort, du trägst so vielerlei Symbol
Bist in Ideen Weltenpol
Kannst überladen sein und auch bisweilen hohl

 

Nein, ich erkenne leider nicht immer die Wahrheit, aber ich erkenne die Lüge!

Danke Udo!