Montags bin ich Gärtnerin

Montags bin ich Gärtnerin.

Lavendel

Ich dufte.
Auch noch nachdem ich in den See gesprungen bin und mich eine gefühlte Ewigkeit habe treiben lassen.
Den ganzen Vormittag habe ich in Lavendel gebadet. Nun haftet er mir an. Genau wie die Sonne. Meine Haut spannt.
Ich habe Lavendel geschnitten. Die oberen Drittel der Halme mit den überduftenden Blütenständen habe ich in einem großen Korb gesammelt. Der Korb riecht genau wie ich. Nur noch intensiver.
Die unteren beiden Halmdrittel habe ich stehen lassen, sie dürfen noch einmal austreiben und den Insekten den Herbst versüßen. Im Frühjahr werde ich auch sie schneiden – für einen üppigen Sommer.
Seit Montag bin ich Gärtnerin.
Nicht in meinem eigenen Garten, sondern zwei Dörfer weiter.

SUCHE HILFE IM GARTEN

– lautete die Anzeige, über die ich vor drei Wochen in unserem Amtsblättchen stolperte. Wie oft schon hatte ich mir überlegt, einfach mal in Berufe reinzuschnuppern? Gärtnern stand dabei immer ganz oben.

Außerdem brauchte ich einen Ausgleich. Ich bin viel zu viel im Kopf, mit viel zu vielen Projekten. Häufig dreht es sich in mir.

Natürlich könnte ich auch in meinem eigenen Garten gärtnern. Natürlich mache ich das auch. Allerdings ohne große Leidenschaft. In anderen Gärten gärtnert es sich irgendwie leichter.

Am Sonntag stellte ich mich bei Klaus und Monika vor. Der Garten ist schön. Lavendel, Wein, Brombeeren, Oregano, zwei Apfelbäumchen, hier und da ein Strauch und viel Wiese mit Blick in die Weite der Uckermark.

Ich solle einfach machen, was ich für richtig halte, sagte Monika. Seit Klaus nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt, kommt sie nicht mehr dazu ihren Garten zu pflegen. Den Rasen mähen die Nachbarn, hier und da schneiden sie auch mal die Sträucher runter.
Nun bin ich da und stürze mich in den Lavendel. Krieche in sein Gehölz und rupfe das wilde Gras, das in ihn hineinwächst. Um mich herum summt und brummt es. Eine der Bienen scheint mich in meinem Tun zu begleiten, wohin ich auch krauche, sie bleibt bei mir, surrt immer über mir.

Ich habe Kopfhörer eingepackt, hatte vor, mir die letzte Folge meiner neuesten spotify-Entdeckung anzuhören – seit drei Wochen lausche ich begeistert dem Literaturpodcast „Zwei Seiten“ von Christine Westermann und Mona Ameziane.
Hier im Lavendel jedoch gefällt mir das Lied der Biene viel besser. Endlich einmal bin ich nur im Jetzt. Gedanken kommen und gehen. Ich scheuche eine Spinne auf. Und was ist das? Die Erde bewegt sich. Hebt und senkt sich als würde sie atmen. Eine erdfarbene Kröte. Sitzt einfach da und atmet. Ihre kupfernen Augen blinzeln nicht einmal. Sie sieht aus, als habe sie sich ausgezogen. Nackt. Erdkröten, lese ich später, häuten sich mehrmals im Jahr.

Natur

Das Thema der Podcastfolge, die ich mir gerade nicht anhöre, ist die „Natur“. Für jede Folge suchen sich Christine Westermann und Mona Ameziane ein Thema und empfehlen sich gegenseitig je ein Buch dazu, das bzw. die sie dann besprechen. „Natur“. Wie passend. Ich könnte mitreden.

Könnte erzählen von den Eidechsen, die bei mir im Gewächshaus zwischen meinen Gurken wohnen, von dem Igel, der sich freut, dass wir unseren Laubhaufen haben liegen lassen, von den Staren, die uns erst die Kirschen und jetzt die Weintrauben mopsen und so traumhaft sicher im Schwarm fliegen, das es wie ein Tanz aussieht. Von den vielen Kranichen, die jetzt gerade wieder auf unseren Feldern zum Sammeln blasen, von den Störchen, die lange nicht so friedlich sind, wie ich dachte, bis sie meine Nachbarn wurden und deren Nachwuchs greint wie meine Kinder früher geweint haben. Und natürlich auch von dem Marder, der sechs Jahre lang bei uns im Dach gewohnt und ordentlich Radau gemacht hat. Aus Angst um unser Dach hatten wir einen Kammerjäger kommen lassen, der unseren Untermieter zu einem Umzug überreden sollte. Das Mittel seiner Wahl war LAVENDEL. „Marder“, sagte der Kammerjäger „mögen keinen Lavendelgeruch“ und verstreute im gesamten Dachstuhl Lavendelkügelchen. Unseren Marder störte das nicht. Er radaute weiter – natürlich immer nur mitten in der Nacht und direkt über meinem Kopf.
Seit Ende August allerdings habe ich ihn nicht mehr gehört. Irgendwie vermisse ich ihn.
Vielleicht, überlege ich, sollte ich den Lavendelgeruch im Dach erneuern. Den Lavendel in meinem eigenen Garten habe ich noch nie geschnitten. Es wird Zeit. Der Lavendel tut mir gut.

Wie die Gartenarbeit überhaupt. Abends liege ich im Bett und rufe mir das Bild des gemachten Lavendelbeets vor Augen. Es ist so schön, sehen zu können, was man getan hat. Außer dem Lavendel habe ich noch zwei kniehoch bewachsene Wiesen gemäht, die Rose an der Hausmauer freigelegt und Laub geharkt.
Nun freue ich mich darauf, dass Monika und Klaus sich hoffentlich freuen werden, wenn sie in zwei Wochen wieder raus in die Uckermark kommen. Vor allem Monika. Als sie mir ihren Garten zeigte, sagte sie:

„Ich habe jetzt andere Aufgaben“.

In der Küche auf dem Tisch lag Helga Schuberts „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“. Ich habe das Buch gelesen. Helga Schubert beschreibt darin den Alltag mit ihrem dreizehn Jahre älteren, kranken und zunehmend in eine andere Wirklichkeit abdriftenden Mann.
Wie schnell sich ein Leben von heute auf Morgen so grundlegend ändern kann.
Auch Klaus war bis vor einem halben Jahr ein gesunder noch immer schaffender Mann. Und Monika noch keine pflegende Ehefrau.

Nächsten Montag werde ich einen kleines Lavendelsträußchen binden und in einer Vase in die Küche stellen. Wenn Klaus und Monika dann am Wochenende zum Ausruhen in ihr Häuschen kommen, soll es für sie duften.
Ein Hauch von Sommer den ganzen Herbst und Winter lang.
Ein Dank von mir – der glücklichen Gärtnerin.

 

Wer war ich, als ich 16 war?

Mitten in der Nacht

schoss mir diese Frage durch den Kopf. Natürlich kam sie mir nicht einfach so in den Sinn. Nur noch ein paar Stunden, dann würde meine Tochter 16 werden. 16. Wie erwachsen das klang. Mein kleines großes Mädchen. Das ihren so ganz eigenen Weg geht. Mit einer beachtlichen Reife, aber auch Ängsten und Sorgen, Sehnsüchten … Wir sind viel im Gespräch. Dennoch weiß ich vieles von dem, was ihr durch den Kopf geht, vermutlich nicht.

Wie war das bei mir?

Wer war ich damals? Was ging mir durch den Kopf? Wo stand ich?
Das Bild ist verschwommen. Die Zeitspanne zwischen 14 und 18 irgendwie eins. Ich sehe mich, weiß, wie ich aussah, aber wer war ich? War das ich? Wie viel ich von damals ist heute noch in mir? Natürlich sehe ich, wenn ich die Fotos von damals betrachte, eine große Ähnlichkeit, aber würde ich sie auch sehen, wenn ich nicht wüsste, dass ich das bin? Beziehungsweise gewesen bin. Wer und wie war ich damals?

Hockey – mein EIN und ALLES

Ich suche nach Erinnerungen. Sie sind nicht leicht zu finden. Aber eines weiß ich sofort und ganz sicher: Mein Anker, mein Halt, mein Leben damals war HOCKEY. Am liebsten hätte ich auf dem Hockeyplatz gewohnt. Auf dem Hockeyplatz gab es einen kleinen Clubraum, ich stellte mir vor, er wäre meine Wohnung, mein Zimmer, und ich könnte von früh bis spät Hockey spielen. Damals war mein Traum, die beste Spielerin der DDR zu werden. Selbstverständlich wollte ich auch zu den Olympischen Spielen, doch das war illusorisch, Hockey gehörte in der DDR nicht zu den olympischen Sportarten und wurde nicht gefördert.

Jetzt fällt es mir wieder ein, die Erinnerung kommt, die Schublade geht auf – als ich 16 war, erhielt ich erstmals eine Einladung zu einem Lehrgang der Juniorinnennationalmannschaft, der U19. Der Lehrgang war in Güstrow und das Ausscheidungsrennen für das Turnier der Freundschaft zwei Monate später in der Sowjetunion. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Muskelkater, die Treppen zur Mensa waren eine Marter. Dennoch war ich glücklich. Jeden Tag durfte ich Hockey spielen, mit den besten des Landes, die schnell meine Freunde wurden.

Mit meiner Heim-Mannschaft, den Damen von Rotation Prenzlauer Berg
1988 – 16-jährig spiele ich mit der Berlin-Auswahl gegen die indische Hockey-Nationalmannschaft

Zwischenspiel Schule

Ich sehe mich auf der Rückfahrt im Zug, beseelt und zugleich tieftraurig – noch sechs lange Wochen waren es bis zum nächsten Trainingslager. Plötzlich erinnere ich mich ganz genau, ich saß in Fahrtrichtung am Fenster – allein im Viererabteil, widerwillig kramte ich mein Geschichtsbuch und meine Mitschriften aus der Tasche. Morgen hatte ich meine schriftliche Abschlussprüfung. Meinen Eltern hatte ich versprechen müssen, mich trotz des vielen Trainings ordentlich auf die Prüfung vorzubereiten. Am Abend wollte mich mein Vater abfragen. In Güstrow hatte ich nicht ein einziges Mal ins Buch geschaut. Nun blätterte ich durch die Seiten zur Französischen Revolution, las und las und dachte dabei nur daran, dass ich, als Jüngste der Truppe, als zweite Nachrückerin für das Turnier der Freundschaft nominiert worden war.

Am Abend im Wohnzimmer, mein Vater simulierte die Prüfung, wusste ich nichts. Mein Vater war entsetzt. Und ich auch. Ich war Klassenprimus und sah mich schon dem Gespött der ganzen Schule ausgesetzt. Was konnte ich jetzt noch tun? Mein Vater schickte mich mit meinem Buch ins Bett, dort sollte ich mir noch einmal alles durchlesen und dann das Buch unters Kopfkissen tun.

Am Morgen zog ich los, darauf gefasst, das erste Mal in meinem Leben total zu versagen. In meinen Gedanken stehe ich wieder im Prüfungsraum. Er war im Erdgeschoss im Wohnhaus neben der Schule. Warum hier? Hatte die Schule den Raum extra angemietet? Fünf Menschen saßen in der Prüfungskommission. Ich schaue in das Gesicht von Frau Gehm, sie hatte ähnlich lilane Haare wie Margot Honecker, neben ihr saß Frau Kaczmarek, die zweite Geschichtslehrin der Schule, und daneben unsere Pionierleiterin Frau Mann. Frau Kannegießer, unsere Direktorin, war dabei und noch ein Mann. Die fünf konnten fragen, was sie wollten, ich wusste alles. Meine Prüfung war ein einziges Freudenfest. Selbst die letzte Fangfrage, mit der Frau Kaczmarek mich nochmal aufs Glatteis führen wollte, konnte mich nicht erschüttern.
Ich glaube, den ganzen Weg nach Hause hüpfte ich. Ich hatte ein 1a-Abgangszeugnis. Und in sechs Wochen endlich mein nächstes Trainingslager.

Dirty Dancing in der Ostsee

Dieses Mal ging es mit der U16-DDR-Auswahl nach Rerik. Mein Vater hat einen Brief aufbewahrt, den ich meinen Großeltern damals aus Rerik schrieb.… „Ich bin seit gestern wieder in einem anderen Trainingslager. Bisher hatten wir einmal Training, welches aber äußerst leicht war. Besser hier ist, dass wir einmal an der Ostsee sind (waren noch nicht baden) und zweitens, dass hier auch Jungs sind, mit denen wir vorher schon im Trainingslager waren. Das Klima zwischen uns ist einwandfrei, das Wetter weniger. …“

 

Der Junge, der mich damals besonders begeisterte, hieß Gerhard und kam aus Erfurt. Aber auch Falk aus Köthen fand ich ganz dufte und Thomas aus Potsdam. Tatsächlich verliebt aber war ich, wie noch einige andere Auswahlspielerinnen auch, in unseren Nationaltrainer Frank Müller. Ich kann gar nicht mehr sagen, ob er hockeytechnisch ein guter Trainer war, aber menschlich war er einer dieser Trainer, immer auf Augenhöhe, immer zu einem Gespräch bereit. Natürlich kokettierte er auch mit uns Teenie-Verliebten. Dirty Dancing mit Patrick Swayze und Jennifer Grey in den Hauptrollen war damals unser Film. Natürlich rannten wir auch in Rerik ins Kino und danach in die Ostsee; Frank Müller gab den Patrick, und die leichtesten von uns – ich, juhu, gehörte dazu – sprangen ihm, unter dem Vorwand, die Dirty-Dancing-Hebefigur nachstellen zu wollen, in die Arme.

Nebenbei brachte mir Frank Müller in „Einzelstunde“ noch das Kraulen bei. In der Ostsee bei Wellengang. Ich weiß nicht mehr, wie viel Salzwasser ich schluckte, aber mein Können langte, um ein paar Monate später die für die Aufnahme an der DHFK in Leipzig notwendigen 25 Meter, mehr schlecht als recht zu bewältigen.

Danken konnte ich Frank Müller dafür nicht mehr. Plötzlich war er weg. Die Mauer war – für mich absolut überraschend – gefallen und mein Lieblingstrainer in die Hockeyhochburg nach Hamburg gezogen.

Was blieb,

und offenbar noch immer in mir schlummert, sind die Erinnerungen und meine Liebe zum Hockey.

Wandere ich noch, oder pilgere ich schon?

Was so ein Rucksack ausmachen kann.

Wie viele Kilometer habe ich in den vergangenen Jahren schon in meinen Wanderschuhen zurückgelegt? Insgesamt sicher mehrere Hunderte. Im letzten Jahr habe ich den Oberuckersee gleich fünf Mal in ihnen umrundet – das allein macht schon 125 Kilometer. Allerdings 125 Kilometer mit leichtem Gepäck. Nun jedoch habe ich mich aufgemacht, um zu pilgern oder einfach nur mehrere Tage zu wandern. Jedenfalls laufe ich auf dem Jakobsweg – und muss mir das erste Blasenpflaster bereits um die Zehe wickeln, noch ehe ich meinen Startpunkt Frankfurt/Oder verlassen habe.
Ursprünglich hatte ich geplant meine Wanderreise mit 11,2 Kilometern eher entspannt anzugehen, um dann jeden Tag ein paar weitere Kilometer draufzupacken, doch nichts da, noch bevor ich mein erstes Tagesziel – Lebus – erreicht habe, weiß ich, ich werde wohl eher von Tag zu Tag ein wenig abspecken.
Wer läuft auch bei 31 Grad und knallender Sonne los, die ersten zwei Kilometer noch dazu an Frankfurts unbeschatteter Hauptstraße entlang? Und dann weiter auf dem Deich – rechts kein Baum, links kein Baum, jedenfalls nicht direkt am Deichweg. Um Temperaturen habe ich mich im Vorfeld überhaupt nicht geschert. Wichtig war mir nur, nicht im Regen laufen zu müssen. Dabei weiß ich doch – eigentlich – dass mir Hitze viel mehr zu schaffen machen kann. In den heißen Wochen vor Ferienbeginn ist mir mein Kreislauf gleich zwei Mal – im wahrsten Sinne des Wortes – durchgedreht. Schwindel!
Warum fällt mir das ausgerechnet jetzt (erst) wieder ein? Kein Mensch weit und breit, und die Sonne brennt. Meine Haut, mein Körper auch. Ich brauche Wasser. Das aus meiner Flasche reicht nicht, um mich zu erfrischen. Ich muss baden, wenigstens die Beine. Und die Arme und das Gesicht und den Nacken. Eigentlich alles. Hundert Wiesenmeter entfernt glitzert zwischen riesigen, Schatten spendenden Bäumen die Oder. Dort will ich hin, dort mache ich mit plätschernden Beinen im Wasser Pause.

Ein Kirchturm – meine Herausforderung

Nichts lockt mich zurück in die Sonne. Aber ich kann ja nicht hier sitzen bleiben. Ich versuche es mit einer Abkürzung. Doch hüfthohes Schneidegras bremst mich. Außerdem krabbelt es wie wild. Sind das Zecken? Nichts wie weg hier und zurück auf den vorgeschriebenen Pfad.
Fünfhundert Meter kostet mich meine misslungene Abkürzung. Fünfhundert zusätzliche Meter, und der Rucksack wird auch nicht leichter. Dafür endet der Deich. Was für ein Segen. Ein dicht bewachsenes Wegelchen schlängelt sich – Schatten! Irgendwann mündet es in einer schier endlos erscheinenden Wiese. Über der Wiese haben sich Wolken vor die Sonne geschoben. In der Ferne taucht Lebus auf. Ich sehe den Kirchturm und frohlocke, gleichzeitig jedoch habe ich ziemlichen Bammel. Der Kirchturm von Lebus – er ist MEINE Herausforderung auf meinem Pilgerweg.
Auf meinem Pilgerweg? Bin ich denn überhaupt eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Tatsächlich bin losgezogen, um zu wandern. Mich mal um nichts anderes zu kümmern, als von A nach B zu kommen und dabei mit mir allein zu sein, in Betten zu schlafen, in denen ich noch nie geschlafen habe und Menschen zu begegnen, die ich noch nicht kenne. Ich will mich einlassen. Das allerdings so preiswert wie möglich.
Im Kirchtum von Lebus findet man gegen eine Spende Herberge.
Eine Nacht im Kirchtum – wie romantisch, dachte ich, als ich zum ersten Mal davon las. Inzwischen ist daraus eine ziemliche Beklemmung geworden. Die Vorstellung, hoch oben im Kirchturm zu schlafen, in einem Verschlag mit zwei ausgeschriebenen Bettstellen, ängstigt mich. Was, wenn ein mir unbekannter Mann die zweite Bettstelle belegen würde? Was, wenn die zweite Bettstelle frei bliebe und ich ganz alleine wäre, im dunklen Turm mit all seinen unbekannten Geräuschen und dem dort sicher wohnenden Getier? Wäre das nicht noch viel gruseliger – mutterseelenallein in einer Holzkammer unter dem Turmdach? Bis zuletzt hatte ich geschwankt, ob ich mich dieser Herausforderung stellen sollte. Augen zu und durch! Raus aus der Fantasie, rein in die Realität.
Die gruselige, dunkle Kammer hoch oben, direkt unter der Glocke entpuppt sich als ebenerdiges, lichtdurchflutetes, spartanisches, aber gemütlich eingerichtetes Zimmerchen, gut isoliert nach draußen, oben und unten sowie – für mich enorm wichtig –abschließbar. Dass Küche, Dusche und Toilette drei Kirchecken weiter und einmal quer durch den Kirchgarten liegen, stört mich nicht. Jedenfalls so lange nicht, bis der Regen, der mir zum Abendbrot unterm Schleppdach zunächst eine zauberhafte Melodie tröpfelt, so heftig wird, dass ich fürchte, nicht mehr sicher und schon gar nicht trocken in mein Kämmerlein zu kommen.
Wie machen das die Störche, die hier, wie bei uns zu Hause, gleich neben mir wohnen? Ihr Nest muss schwimmen, ihre Federn triefen. Wurde je ein Storchennest vom Blitz getroffen?
Ich liege im Trockenen und lese. Erst jetzt bekomme ich mit, dass über mir alle Viertelstunde die Glocke schlägt, zur vollen Stunde will das Geglocke gar nicht mehr aufhören. Wie schnell gewöhnt sich ein Gehirn an diese permanente Störung? Werde ich schlafen können?
Ich kann: Von zehn bis sieben Uhr schweigt die Glocke. Dafür tobt das Unwetter.

 

Da ragt er heraus, der Kirchturm von Lebus – meine Herausforderung

Wie mag der alte Fontane gewandert sein ?

Am Morgen dagegen strahlt die Sonne – sofort wieder mit voller Wucht. 31 Grad den ganzen Tag. Das ist nicht mein Wetter.
Was sagen die Störche dazu? Haben sie ein Lieblingswetter? Denken sie überhaupt über so etwas nach? Oder nehmen sie einfach nur hin?
Der Weg ist grün. Nur Urwald um mich herum. Was für ein Glück. Hier lässt es sich aushalten. Ich verstehe nicht, wie man ganze Wälder zugunsten von Windrädern und Solarparks abholzen kann. Noch dazu, wenn parallel über einen unaufhaltsamen Temperaturanstieg geklagt wird? Unter dem dichten Blätterdach ist es gerade mindestens fünf Grad kühler als ein paar Kilometer weiter auf dem Deich. Herrlich.
Wenn nur dieser schwere Rucksack nicht wäre. Seit Jahren schon stelle ich mir vor, im Alter, also wenn die Kinder groß und aus dem Haus sind, loszuziehen und Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neu zu schreiben. Aber mit diesem schweren Rucksack? Wie hat der alte Fontane das gemacht? Bestimmt nicht per pedes mit seinem halben Hausstand auf dem Rücken.
Links neben mir erstreckt sich das Mühlenfließ. Eine Aneinanderreihung kleiner Teiche, die einer den anderen speisen. Bäume wurzeln im Wasser, Entenflott, so weit das Auge reicht. Flirrende Sonnenstrahlen. Ich bleibe stehen, muss ein Foto machen. Plötzlich sind sie da: Mücken. Eine ganze Armada stürzt sich auf mich. Ich schlage auf meine Beine, meine Arme, meinen Kopf und flüchte. Sofort lassen die Mücken von mir ab. Zum Glück.
Vor dreißig Jahren haben mich Mücken mal durch einen ganzen Wald gejagt. Die kleinen Plagegeister hatten meine Freundin Dana und mich beim Blaubeersammeln aufgespürt, attackiert und gleich noch alle Verbündeten der näheren und weiteren Umgebung aufgestachelt uns ein für alle Mal aus ihrem Wald zu vertreiben. Eine Viertelstunde rannten wir, dann waren wir aus dem Wald und die Plagegeister los.

Der Urwald des Mühlenfließ

Wölfe, Hunde, Mirabellen

Was war das? Ein Rascheln. Ich muss an vorgestern Abend denken, an unsere Hunderunde in der Dämmerung, an meine panische Lilo, die den ganzen Weg über Wölfe witterte. Schauen mich da zwei Augen an? Vier? Gibt es hier überhaupt Wölfe? Na klar, Polen ist nicht weit, von dort sind sie doch eingewandert. Was, wenn gerade jetzt hier ein Isegrim meinen Weg kreuzt? Eigentlich machen die ja nichts, aber wenn ausgerechnet heute doch? Meine Fantasie … Ich checke die Umgebung, suche Bäume, auf die ich klettern könnte. Zuerst müsste ich natürlich den Rucksack abwerfen und dann … Was, wenn mir das Handy beim Sprung auf den Baum aus der Hosentasche fällt? Dann sitze ich halbhoch oben und traue mich nicht runter. Meine Beine werden immer schneller. Der Rucksack immer leichter. Plötzlich liegen Mirabellen vor mir auf dem Waldboden. Die Sammlerin in mir erwacht. Ich lasse es mir schmecken. Kein Wolf kann mich mehr schrecken.
Was der Weg alles bereithält: Brombeeren, Pflaumen, sogar die ersten Augustäpfel. Und einen See. Ich schwitze wie ein Elch und tauche ein wie eine Forelle.
Nicht weit entfernt bellt ein Hund die polnischen Radfahrer an, die eine Stunde lang den Weg gesucht haben, auf dem ich gleich an dem Hund vorbei muss. Shirley MacLaines „Jakobsweg“ kommt mir in den Sinn, oder war es der von Paolo Coelho? Darin beschreibt sie/er die Begegnung mit den wilden Hunden von – ich weiß nicht mehr, wie der Ort hieß. Als ich das Buch las, wusste ich, diesen Weg werde ich nicht gehen. Mittlerweile würde ich mich wohl wagen. Unser Trixihund hat mich therapiert. Natürlich bellt der Schnäuz, als ich den Weg an seinem Gartenzaun passiere. Ich summe mir ein Lied.
Es ist gerade mal drei Uhr, als ich die Pension an der Orgelwerkstatt erreiche. Ich bewohne sie ganz alleine. Die Wirtin ist momentan selbst auf dem Jakobsweg unterwegs und gerade bei den Meistersingern in Nürnberg. Ihr Mann, der Orgelbauer, verköstigt mich mit plückreifen Tomaten aus seinem Garten, Zwiebeln und Basilikum. Ich schnappe mir ein Buch und genieße meine Zweisamkeit mit mir.

Allein mit mir

Bin ich ein Scharlatan?

Am Morgen drückt mir der Orgelbauer meinen ersten Pilgerstempel in meinen Pilgerpass. Bin ich nun eine Pilgerin? Oder doch nur eine Wanderin? Was ist der Unterschied? Den Pass hatte ich mir vornehmlich besorgt, um die Pilgerherbergen nutzen zu dürfen. Bin ich ein Scharlatan? Nein! Ich bin eine Pilgerin! Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.

Zum Abschied hat mir Christian, der Orgelbauer, einen Pilgersegen mit auf dem Weg gegeben. Seine Worte haben mich tief ergriffen. Heute werde ich noch zehn Kilometer pilgern, dann bin ich wieder zu Hause. Auf dem Weg beschäftigt mich Christians Vergleich des Pilgerns mit dem Begriff des Ablasshandels. Geht es, fragte er, nicht genau darum, abzulassen, von allem, was einen beschwert, vor allem auch von den vielen Gedanken, und einfach nur den Weg zu gehen?
Ich gehe ihn ziemlich zackig, merke ich plötzlich. Den Rucksack spüre ich kaum noch.
Kein Zweifel, ich pilgere, bin auf dem Weg. Ist nicht das ganze Leben eine Pilgerreise?

Was wäre wenn …

Was wäre, wenn …
… Friedrich Wilhelm IV. die ihm am 30. März 1849 durch
Volksvertreter angetragene Kaiserwürde angenommen hätte?
… sich KPD und SPD 1933 einig gewesen wären?
… Adolf Hitler ein erfolgreicher Maler geworden wäre?
… Stauffenbergs Attentat geglückt wäre?
… eine umfassende Entnazifizierung stattgefunden hätte?
… in den alliierten Besatzungszonen keine neue Währung
eingeführt worden wäre?
… über die Stalin-Note verhandelt worden wäre?
… ein Volksentscheid über die Vereinigung oder fortlaufende
Entzweiung des geteilten Deutschlands entschieden hätte?
… die Mauer nicht gebaut wäre?
… oder die Panzer gerollt wären, um ihn aufzuhalten?
… an der Bornholmer Brücke am 9. November 1989 die Nerven
verloren hätte?
… keine permanente NATO-Osterweiterung stattfinden würde?
Rammstein geräumt würde?
Gestern besuchte ich mit meinen Töchtern die Ausstellung „Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Die Ausstellung ist ein spannender Ansatz, der viel Raum zum Ausmalen gibt.
Meine Tochter beschäftigte vor allem die Frage, ob Anne Frank überlebt hätte, wenn Stauffenbergs Bombe Hitler getötet hätte? Meine Tochter hat eine Facharbeit über Anne Frank geschrieben, ihr Schicksal hat sie sehr bewegt.
Während ich fest davon überzeugt war, dass Anne Frank im Falle eines geglückten Attentats selbstverständlich überlebt hätte, gab meine Tochter zu bedenken, dass sie vielleicht trotzdem Fleckfieber hätte bekommen und daran sterben können. Oder Tuberkulose. Sie hätte anderen fanatischen Antisemiten zum Opfer fallen können oder einfach nur einen Unfall haben. Sehr wahrscheinlich jedoch wäre sie nicht ins KZ depotiert worden .
Oder vielleicht doch? Vielleicht wäre der Krieg mit einer neuen Regierung nach Hitlers Tod beendet worden. Aber auch der Krieg gegen die Juden?
Es sind so viele kleine Entscheidungen, die am Ende große Geschichte ausmachen. Und wir alle, davon bin ich überzeugt, können die Geschichte mitschreiben.
Und darum geht es
JETZT.
Vierzehn Schlüsselmomente der Deutschen Geschichte hat der Historiker Dan Diner für die Ausstellung ausgewählt. Am Ende erwartet den Besucher ein gänzlich leerer Raum – überschrieben mit 2023.
Was wird werden in diesem Schlüsseljahr?
Werden nach dem Leopard auch Kampfjets in die Ukraine entsandt? Und danach Soldaten? Oder kommen fremde Soldaten zu uns? Totalmobilmachung?
Wird sich der Meinungskorridor wieder weiten oder noch enger werden?
Wird eine Aufarbeitung der vergangenen drei Jahre stattfinden? Oder zur alten Normalität (die es m.E. gar nicht gibt) zurückgekehrt?
Was passiert mit unseren Krankenhäusern? Werden die Kapazitäten erweitert? Die Profitgier hinten angestellt, zum Wohle des Menschen?
Wird es überhaupt wieder menschlicher und NATUeRlicher?
Was wäre wenn …
…wir uns einfach entscheiden, friedlich miteinander zu leben. Und anerkennen, dass wir alle zur Menschheitsfamilie gehören, und dass es dieser nicht nicht um höher weiter besser reicher geht, sondern um Liebe und Lebensglück?
Wußtet ihr, dass es eine Weltuntergangsuhr gibt? Auch sie ist in der Ausstellung abgebildet.  2017 stand sie bereits auf 11:57:30.
Angesichts dessen, was seit 2020 passiert ist, frage ich mich, steht sie noch vor 12 Uhr.
Was denkt ihr?

Ohne mich

Es ist der 1. Februar 1916. Mein Opa wird geboren. Mitten im ersten Weltkrieg. Sein Vater, mein Uropa war zu dieser Zeit als Soldat an der Westfront. Erst im Januar 1919, also kurz vor dem dritten Geburtstag meines Opas, kam er wieder nach Hause.
Neunzehneinhalb Jahre später, am 18. November 1938, knapp ein Jahr vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, wurde mein Opa eingezogen. Zweiundzwanzig Jahre war er damals alt. In den fast sechs Jahren des Krieges verschlug es meinen Opa nach Polen, Lothringen, die Kanalküste bei Calais, nach Weißrussland, nach Kronstadt sowie an die Front vor Wolchow.
So verrückt es klingen mag, ausgerechnet in dieser Zeit lernte mein Opa meine Oma kennen. Sie war eines der jungen Mädchen, das zu Hause an der Heimatfront eifrig Socken für die Soldaten in den Schützengräben strickte. Ein Paar von Omas Socken landeten an Opas Füßen.
Diese Geschichte, von der Oma und Opa nicht mehr als diese paar Eckdaten hinterlassen, habe ich in meinem Buch „Winterschmetterlinge“ aufgegriffen und in der Erzählung „Weihnachten vor Kronstadt“ literarisch ausgeschmückt .
Zurückgreifen konnte ich dabei auf einige Details, die mein Opa mir 1996 in einem Brief über seine  Soldatenzeit geschrieben hatte.

„Im ersten Winter des Krieges mit der Sowjetunion lag ich als vorgeschobener Beobachter in einem Schützengraben auf der Mondscheinhöhe vor Kronstadt – verlaust und verdreckt. Unsere Unterkunft war ein niedriger kaum mannshoher Unterstand mit einigen harten Pritschen. Draußen war es am Abend bitterkalt (ca. -40 Grad Celsius), sternenklar und windstill. Drinnen im Unterstand brannten keine Kerzen, sondern nur einige aus Handgranaten gebastelte Ölfunzeln sowie ein aus einer achtundzwanzig Zentimeter Kartusche selbst gebauter Kanonenofen, aus dem es qualmte. Diesen Ofen konnten wir nur nachts benutzen, am Tage hätte uns der Rauch verraten. Ich war Unteroffizier und Truppführer – Offiziere ließen sich vorne im Graben nicht sehen.“

Das klingt doch wie heute. Ich erinnere an Gerhard aus meinem Buch „Ich möchte einfach noch Bäume ausreißen! Aber nur kleine“, der forderte: „Ich finde, alle, die Politik machen, müssten irgendwie eine Art Frontbewährung machen müssen. Zum Beispiel könnten sie eine Stunde unter Artilleriebeschuss leben. Danach können sie dann sagen: „So jetzt machen wir Politik“. … und liefern Panzer … und wer weiß, was noch.

Auf der sonst so umkämpften Mondscheinhöhe, schrieb mein Opa weiter, fiel in dieser Weihnachtsnacht kein Schuss. Am Neujahrstag aber schon ging es weiter mit dem gegenseitigen Abschlachten.

„Wir haben unter Trommelfeuer gelegen. In den Morgenstunden war Wachablösung. Mein Vorgänger hatte vergessen, den Ofen auszumachen. Dadurch geriet der Beobachtungsposten unter Beschuss, ein Volltreffer war nur noch eine Frage der Zeit. Daher bin ich weggepest so schnell ich konnte. Kurz darauf gab es den Volltreffer“.

Später hatte mein Opa die Ruhr. Sie hat ihm das Leben gerettet. Es drückte ihm dermaßen im Darm, dass er den Unterstand Hals über Kopf verlassen musste, um sich zu erleichtern. Das war seine Rettung. Während er kackte, traf es den Unterstand. Darin waren seine Kameraden – alle tot.

Immer wieder habe ich versucht, mehr von Opa aus dieser Zeit zu erfahren. Es war schwer, Opa sagte über sich, er sei ein Meister im Verdrängen. Ich habe keine Ahnung, ob oder wie ihn diese Erfahrungen seiner jungen Mannesjahre geplagt haben – hat er von den Leichenteilen, die in den Bäumen hingen (und die er mehrfach erwähnt hat) geträumt? Haben ihn die vielen Toten verfolgt? Zumindest die, die er selbst getroffen hat? Hat er welche getroffen?
Wie kann man damit leben? Kann man damit leben?
Opa wurde mehrfach verwundet. Zeit seines Lebens hatte er mit Granatsplittern zu tun, die ihn getroffen hatten und im Körper wanderten.
1945 wurde er wegen einer Hirnverletzung vorzeitig aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen.

Ich habe eine Freundin, deren zwanzigjähriger Sohn panische Angst davor hat, dass der Krieg zu uns kommen könnte, dass er eingezogen werden wird. Ich kann diese Angst verstehen. Ich mache mir ebenfalls Sorgen. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was würde er im Falle eines Krieges tun?

Früher zu den Hochzeiten des Kalten Krieges, ich war noch ein Kind, habe ich mir überlegt, dass ich meinen  Mann und meine Söhne einfach verstecken würde. Später, als ich Mann und Sohn hatte, erkannte ich, dass es so einfach nicht sein würde – allerdings hielt ich es damals noch für ausgeschlossen, dass wir jemals in solch eine Situation geraten könnten.
Ich kann niemanden verstecken, der sich nicht verstecken lassen möchte. Jeder muss seine Entscheidung selbst treffen.

Aber stellt euch einfach mal vor:

„Es ist Krieg und keiner geht hin!“

Das sollte doch funktionieren.